Samstag, 30. Dezember 2017

Eine Chronik (64)


Er ist also wieder da. Fünf, alles andere als ereignisarme Wochen später. Fünf Wochen, in denen nur Lesen, Musikhören, ein paar Besuche möglich waren. Fünf Wochen, in denen ihm sechs bis sieben Kilo Körpergewicht verlorengegangen sind, weshalb er in seinem Hosengürtel mit Hammer und spitzem Schraubenzieher ein zusätzliches Loch anbringen musste. Fünf Wochen, in denen an Schreiben nicht zu denken war, am allerwenigstens an den Tagen, da er zwei Spitzen einer Gabel aus Plastik in den Nasenlöchern stecken hatte, die auf einem dünnen, karibikblauen Schlauch saß.
Dann der Versuch, mit der Hand und der zufällig wiedergefundenen alten Füllfeder ein paar Wörter niederzuschreiben. Was misslingt. Doch allein die Geste tut gut, die Bewegung, auch wenn der gewünschte Schwung noch fehlt. Doch auch der wird wiederkommen. Wie – hoffentlich – auch die Muskeln, die sich in den Unterschenkeln und Oberarmen einfach aufgelöst zu haben scheinen, verflüchtigt, weggeschmolzen. Stellenweise sind nur Haut und Knochen übrig, blaue Flecken, rote Pünktchen von den Einstichnadeln, den Spritzversuchen. Er kann gut verstehen, wenn B., die Nachbarin, schreibt, manchmal würde sie sich am liebsten hinter der Heizung verkriechen. Platz wäre jetzt ja genug da, fast. Zu essen braucht er sowieso nicht mehr viel, an manchen Tagen genügen ein paar Tropfen Wasser. Und die richtigen Bücher, die er im ganzen Haus verteilt hat, für den Fall, dass er zufällig irgendwo vorbeikommt, Mattigkeit ihn überwältigt und er sich zum Verschnaufen kurz hinsetzen muss. Lesestoff liegt dann stets parat, sowie ein Bleistift und ein Zettel, für den Fall, dass etwas festgehalten, niedergeschrieben werden muss.
S. macht das alles klaglos mit. Ist nicht selbstverständlich. Muss mich mal in aller Form bei ihr bedanken. Dafür, dass sie sich nie beschwert, alles erträgt, neulich tagelang kreuz und quer durch Agadir unterwegs war, um alle nötigen Formulare zu besorgen, Rechnungen zu bezahlen, Kontakte zu knüpfen, Transfers zu arrangieren, Hindernisse zu beseitigen, Zeitpläne zu koordinieren. Auch daran denke ich immer wieder, wenn ich nachts im Bad stehe, wie in dem Gedicht von Harald Hartung, die Autogeräusche im Hintergrund, weil die Welt sogar um diese Zeit noch unterwegs ist, wie kalt sind die Fliesen, und der Fremde im Spiegel mir rät, ihm doch gefälligst aus dem Weg zu gehen.

Freitag, 29. Dezember 2017

Eine Chronik (63)


Kurz vor Weihnachten. Fünfter Therapiezyklus im Nuklearbunker, diesmal von dienstags bis freitags, also einen Tag länger als bisher. Bevor der erste Blutstropfen fließt, informiere ich die zuständigen Personen über die Vorfälle der letzten vier Wochen. Oberarzt Dr. H. weiß sofort eine Erklärung – und bestätigt die Vermutungen von Dr. W. Infolge des während der Therapie entstehenden „Untergangs“ von Tumorzellen ist es zu einer mehrtägigen erhöhten Ausschüttung von in Tumorzellen gebildeten Hormonen gekommen. Diese geht mit Kreislauf- und Atembeschwerden, Übelkeit, Kopfschmerzen, neurologischen Symptomen sowie der sogenannten Flush-Symptomatik einher … – Genau so steht es in den Patienteninformationen unter dem Zwischentitel „Risiken und mögliche Nebenwirkungen“, die ich nun bereits zum fünften Mal ausgehändigt bekomme, aber bisher immer nur überflogen habe. Nach dem Motto: „Mir wird das alles schon nicht passieren!“ Und überhaupt: Was kann man sich Besseres wünschen als den „Untergang von Tumorzellen“, als die Stable Disease mit teilweise rückläufigen bzw. einzelnen sogar nicht mehr nachweisbaren Tracermehranreicherungen sowie ohne Nachweis einer neu aufgetretenen malignomtypischen Nuklidanreicherung, auf die in der ärztlichen Beurteilung nach dem jüngsten PET-CT hingewiesen wurde?
Das leidigste Problem in diesen Tagen: meine Venen. Entweder sind sie geradewegs unsicht- und unfühlbar oder so fein, dass sich kein Katheter hineinschieben lässt, oder so gewunden, dass jede Nadel sofort an hinderliche Wände stößt. Ist es an der Zeit, mir einen Port implantieren zu lassen, im Hinblick auf künftige Blutentnahmen und Infusionen? Überwiegen die Entzündungsrisiken oder die Vorteile für Patient und Klinikpersonal?
Vor wenigen Tagen ist Lisa Berg, die seit 2015 an Leukämie erkrankte Cellistin, verstorben. Drei Jahre. Da beginnt man auch selbst zu rechnen, falls man es nicht sowieso schon tat, nach Erhalt der eigenen Diagnose, und es immer noch tut, fast täglich, wenn nicht noch häufiger.      

Donnerstag, 28. Dezember 2017

Eine Chronik (62)


Taghazout ist ein herrlicher Flecken. Im Hotel, das wir bereits letztes Jahr besuchten, werden wir fast schon wie Stammgäste umgarnt. Keinerlei Hektik, entspannter Betrieb, wolkenloser Himmel bei idealen Temperaturen um 24 Grad und eine Lektüre, die mich von den ersten Zeilen an tief ins Buch hineinzieht, so dass die rund 500 Seiten einen gar nicht abzuschrecken vermögen, ganz im Gegenteil. Heute, da das Werk ausgelesen ist, kann ich es ja sagen: Der neue Roman (oder sind es Erzählungen, wie die verwackelte Genrebezeichnung auf dem Buchcover ebenfalls suggeriert?) von Nico Helminger, „Kuerz Chronik vum Menn Malkowitsch …“, ist eine Wucht, mein Buch des Jahres 2017, all denjenigen unbedingt zu empfehlen, die etwas über den momentanen Zustand des Landes Luxemburg und der dort lebenden Menschen erfahren wollen, spannend, krude, passagenweise ein bisschen dick aufgetragen, aber stets politisch wunderbar inkorrekt, saftig und kraftvoll erotisch-pornografisch, ambitioniert, augenöffnend, alle literarischen Register der luxemburgischen Sprache ziehend, dennoch süffig zu lesen …
Am vierten Tag in Marokko allerdings die Ernüchterung: dieselben Symptome wie 14 Tage zuvor in Walferdingen. Allergische Reaktion (auf ein am Straßenrand, über offenem, mit Benzin angefachtem Feuer gegrilltes Hähnchen?) mit Erbrechen, Kopf- und Magenschmerzen, Schwellungen und Rötungen, rasende Herzschläge. Am späten Abend holt mich ein Wagen von SOS AMU am Hoteleingang ab. Mit Blaulicht und Sirene geht’s nach Agadir, in die Notaufnahme der Polyclinique Illigh. Ich kann Ihnen, lieber Leser, bestätigen: Marokkanisches Pflegepersonal ist mindestens so eifrig und bemüht wie westeuropäisches, aber die ganzen Maschinen und Apparaturen, die ihm zur Verfügung stehen, sind leider nicht auf dem neuesten Stand. Egal, all die Himas und Aischas, die Ahmeds und Mohammeds schafften es, mich binnen drei Tagen soweit wieder auf die Beine zu bringen, dass ein Jet der Air Rescue auf dem Al Massira-Flughafen landen, mich an Bord nehmen und kompetent nach Hause bringen konnte. Eigene Liege, Decken, Getränke und Essen nach Wunsch – der perfekte Bordservice, das reinste First Class-Erlebnis. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Wochen lande ich in der hauptstädtischen Zithaklinik, man kennt mich dort, auf der Nuklearstation, schon. Auch die Prozedur ist die gleiche wie beim letzten Mal. Tropf an Tropf an Tropf. Und die Idee von Dr. W., dass die Beschwerden vielleicht doch als Nebenwirkungen der Radiopeptidtherapie einzuschätzen sind. Also verschreibt er mir Sandostatin 100-Spritzen, die ich mir von nun an zweimal täglich selbst subkutan verabreichen muss, zwecks Bekämpfung der Überproduktion bestimmter Hormone und ähnlicher körpereigener Stoffe im Magen, welche das natürliche hormonelle Gleichgewicht im Körper stören.
In den Tagen danach: viele Stunden Ruhe, ideal zum Lesen (etwa der wunderbaren Kurzgeschichten von Lucia Berlin), zum Musikhören (in endloser Schleife: Symphony No. 3 von Henryk Górecki) …    

Mittwoch, 27. Dezember 2017

Eine Chronik (61)


Wollte da etwa ein fieses Rieslingspastetchen jemanden definitiv zum Schweigen bringen? So kam es dem Verzehrer besagten Snacks jedenfalls vor, nachdem er gleich am ersten Tag der diesjährigen Büchertage in Walferdingen (ja, gut fünf Wochen, so lange ist das bereits her!) plötzlich übelstes Unwohlsein verspürte. Mit dem Resultat, dass er tags darauf auf der Intensivstation landete, mit Kreislauf- und Atembeschwerden und tomatenrot angeschwollenem Gesicht und ohne Hunger noch Durst in den nächsten fünf Tagen.
Ein einleuchtender Grund für den Kollaps fand sich nicht – Lebensmittelvergiftung, Magenzisten, Herzbeschwerden, mangelhafte Schilddrüsenfunktion? Vermutungen gab es viele –, aber während der langen Stunden an diversen Tröpfen stellte sich ein einigermaßen stabiler Gesundheitszustand allmählich wieder her. So dass der Patient am Ende entlassen werden konnte, zwar nicht geheilt, aber immerhin imstande, auf nicht allzu wackeligem Fuß zu stehen. Und bereit, die schon länger geplante Marokko-Reise Anfang Dezember, trotz Bedenken, aber mit ärztlichem Segen, wohlgemut anzutreten.


Freitag, 17. November 2017

Eine Chronik (60)


10:15. Bei Wasser und Brot … ähm, nein, bei Latte Macchiato und Schokocroissant in der Cafeteria. Es bediente mich, wie auf dem Kassenzettel steht, „Theke 2“ – hellbraun gelockt, äußerst freundlich und fast schon unanständig gut gelaunt. Während ich im Kaffeeglas rühre, fällt mir der Traum der vorigen Nacht ein: Die Begegnung mit einem alten Bekannten, der mir plötzlich viel kleiner vorkommt als früher. Als er davongeht, erkenne ich, dass sein linkes Bein unterhalb des Knies amputiert ist und anstelle seines rechten Beins ein kurzer, hölzerner Stock aus seinem Unterleib ragt, wie oft bei Kapitänen in alten Piratenfilmen.

10:35. Vom Gebäck sind nur Krümel übrig, das Glas ist leer. Blicke mich um: Den größten Raum im Eingangsbereich der Klinik nimmt eine Bankfiliale ein. Gleich daneben der Zeitungs-, Süßigkeiten- und Souvenirladen. Dort gibt es auch Fertiggerichte zu kaufen. Zum Glück muss ich mich erst nächste Woche wieder mit Spitalskost begnügen.

10:45. An der Eingangstür zur Abteilung Nuklearmedizin hängt ein Schild: „Aus Hygienegründen verzichten wir auf das Händeschütteln. Wir bitten um Ihr Verständnis.“ Nehme, etwas verfrüht, im Behandlungszimmer Platz, zum dritten Mal für heute. Blättere in dem mitgebrachten „Reportagen“-Band Nr. 34 vom Mai 2017. Die Albanerin streckt den Kopf herein und erkundigt sich nach meinem Befinden. Gut, sage ich.

11:00. Nächste Blutabnahme durch MTRA Heike W. Frage die Dame, was MTRA bedeutet: Medizinisch-technische Radiologie-Assistentin. Alles fließt wie geölt. Nehme erneut auf dem Warteflur Platz, lese weiter in dem Artikel über Sex, Lügen und YouTube.

11:55. Vierte Blutabnahme. Zunächst kommt der dunkelrote Saft nur getropft. Muss den Arm etwas tiefer hängen lassen. Wir sollten die Erdanziehungskraft nutzen, sagt die MTRA. Dann wickelt sie erneut den schützenden Verband um den Zugang. Bis in einer knappen Stunde, sagt sie. Bis dann, sage ich und gehe. Draußen steht die Imbissbude vom Fritten-Heini. Schaue mir kurz die Tafel mit seinen Angeboten an, lasse es dann aber lieber. Entscheide mich für drinnen – leider. Denn die groß beworbene Tomatencremesuppe schmeckt wie die Tomatensauce aus der kindheitsfernen Mirácoli-Packung, also irgendwie eklig. Zur besseren Verdauung hole ich mir im Laden nebenan einen Riegel weißer Schokolade mit zerbröselten Cornflakes. Ebenfalls keine Offenbarung. Ab 12:30 muss ich intensiv Wasser trinken, um die Nieren auf Trab zu bringen.

Wann die Kamera nach 13:00 frei sein wird, ist laut MTRA momentan nicht abzusehen. Es könne aber noch dauern – was immer das heißt. Gut, dass ich für die Lektüre eines der umfangreichen „Reportagen“-Artikel zwischen 40 und 50 Minuten brauche.

So vergeht die Zeit ziemlich schnell. Allmählich lichten sich die Wartebereiche. Einmal schlendert eine Frau weinend den Flur hinunter. Dann Geräusche von Stöckelschuhschritten, die um zwei Ecken verhallen.

Mein wartendes Gegenüber betrachtet minutenlang seine Fingernägel. Ab und zu keucht der dickleibige Mann, einmal knurrt er etwas, das sich wie „Bier“ anhört.

13:50. Werde in den Scan-Raum gebeten. Muss alles Metallische ablegen und mich mit halb heruntergelassener Hose auf die Pritsche begeben. Ab jetzt bitte nicht mehr bewegen, sagt der junge Mann, einer der zahlreichen Praktikanten, denen ich in den letzten Monaten hier begegnet bin. Die Pritsche ruckelt ein wenig. Von irgendwo ein dumpfes Geräusch. Stimmen aus dem Nebenraum. Einmal huscht Dr. T. vorbei. Wenn es gerade nicht irgendwo im Gesicht, auf der Brust, an Armen oder Beinen kribbelt und juckt, drohe ich einzunicken.

Die eigentliche Nierenszintigrafie dauert rund 45 Minuten, inkl. fünfter und sechster Blutentnahme. Dann darf ich gehen, sieben Stunden später. Rasch nach draußen, tief Luft holen. Warten auf S. Trotz Sonnenschein ist es kalt und feucht, fast schon usselig. Acht Minuten später fährt S. vor. Sie freut sich, dass es mir gut geht.   

Donnerstag, 16. November 2017

Eine Chronik (59)


Kurz nach acht Uhr auf dem Parkplatz des Klinikums. Neben dem Haupteingang steht ein Leichenwagen mit laufendem Motor, wartet. Der Fahrer starrt auf sein Handy. Der Sargraum ist leer.

Im zweiten Untergeschoss empfängt uns die ältere Krankenschwester mit dem krausen Schopf. Vor 14 Uhr werde die heutige Sitzung auf keinen Fall beendet sein, erklärt sie. Eine der beiden Kameras sei kaputt, deshalb würden die Untersuchungen diesmal etwas länger dauern. So weiß S. zumindest Bescheid und kann ihren Tag besser planen, bevor sie mich irgendwann am Nachmittag wieder abholen kommt. 

Eine Stunde später. Dr. T., die charmante albanische Assistenzärztin, stellt sich vor. Bisher haben wir uns ja noch nicht kennengelernt, stellt sie zur Begrüßung fest. Richtig, erwidere ich, aber wie war Ihr Name? Sie deutet auf das Ausweiskärtchen, das von der Brusttasche ihres weißen Kittels baumelt. Ich solle doch raten, wo sie herkomme. Osten?, mutmaße ich. Nein, nicht ganz, sagt sie. Die Buchstabenkombination S und H in ihrem Nachnamen irritiert mich. Mittelmeeranrainer?, taste ich mich vor. Ja, erwidert sie. Aber Ihr Name klingt weder italienisch noch spanisch oder französisch, sage ich. Also Albanien. Genau, sagt sie, übrigens völlig akzentfrei, alle Achtung! Aber wie kommen Sie nur darauf? Wegen des Hs hinter dem S, sage ich.

Dann zieht sie violette Gummihandschuhe an und versucht, mir zwei Zugänge zu legen: einen roten in den rechten Unterarm, einen blauen in den linken. Die üblichen Probleme bei der Suche nach aufnahmefähigen Adern. Am Ende klappt es in jedem Arm beim ersten Versuch. Respekt, sage ich, das bekommen nicht viele hin. Die Albanerin schmunzelt.

Zwischendurch klingelt dreimal ihr Handy. Sie klemmt es sich zwischen Schulter und Ohr und macht mit den Nadeln und Stöpseln und Pflastern einfach weiter. Einmal erklärt sie ihrem Anrufer: Ich bin grad bei der Niere.

Die Niere bin in diesem Fall ich, ein bisschen kümmerlich dasitzend, mit zwei hochgekrempelten Hemdsärmeln und einem dünnen Schal um den Hals. Dr. T. verabschiedet sich, bis später, und geht.

Erste Blutabnahme in einer Stunde. Setze mich in der Zwischenzeit ins Wartezimmer, wo heute für einmal sehr viel Betrieb herrscht. Patienten jeden Alters, wie gehabt, aus allen sozialen Schichten, sofern man das auf einen ersten, flüchtigen Blick erkennen kann. (Man kann!) Alle blicken mehr oder weniger trübselig drein. Einer zippelt an der Haut auf den Nagelbetten seiner Finger, einer wischt und tappt auf seinem Handy herum – dabei gibt es hier unten auf der Nuklearstation gar kein Netz, also spielt er vermutlich irgendein Menschenfresser- oder Massaker-Spiel –, niemand greift zu den ausliegenden Illustrierten oder liest eine Zeitung, in einem Buch. Selten fällt ein Wort.

Auch die bekannten Gesichter, die in weißen Kitteln herumlaufen, schweigen. Eine durchaus absurde Szenerie; man müsste eine Kamera aufstellen und über Stunden hinweg filmen, was auf den Fluren so alles passiert: Patienten, die kommen und wieder gehen; Personal, das von links nach rechts durchs Bild läuft und meist kurze Zeit später auch wieder von rechts nach links, einmal mit Mäppchen, einmal ohne, diverse Gestelle auf Rädern vor sich her schiebend, einen Papierstapel unter den Arm geklemmt, mit losen Zetteln in der Hand. Ein experimentelles Videoprojekt mit dem Titel „Nuclear Promenades“, ohne Mudam- oder Casino-Auftrag.

Zudem ist ein Teil des Flurs hinter einem Sichtschutz aus Plastikplanen verborgen, eine Art Baustelle auf einem der Gänge. Vorhin erwähnte jemand, dass ein alter Scanner durch einen neuen ersetzt würde.

Soeben schlich ein Mann in Zivil heran und schlüpfte hinter die undurchsichtige Wand wie hinter einen Theatervorhang. Später bewegte sich dort etwas, ein stummer Schatten hinter einem Schleier aus Milch.

9:45. Noch zehn Minuten, dann kurve ich um zwei Ecken, mache den linken Arm frei und lasse mir zum zweiten Mal Blut abzapfen. Manchmal wird in den Warteräumen aber auch so laut und ausdauernd geplappert, dass nicht an Lesen und schon gar nicht an Schreiben zu denken ist.

Noch fünf Minuten. Einer der Wartenden ist schlimm erkältet, hustet, schnüffelt und schnäuzt sich ohne Unterlass. Noch vier Minuten. Danach gehe ich nach oben, kurz an die frische kalte Luft und in der Cafeteria einen Kaffee trinken, ein Stück Gebäck essen. Hatte noch keinen Hunger, früh am Morgen.  

Sonntag, 12. November 2017

Eine Chronik (58)


Der neueste Befund nach dem jüngsten PET-CT kommt mit der Post. Er bestätigt, was der provisorische Ärztebericht nach dem letzten, dem vierten Radiopeptidtherapie-Zyklus schon angedeutet hatte: „Formell zeigt sich ein Stable Disease mit jedoch rückläufigen bzw. einzelnen sogar nicht mehr nachweisbaren Tracermehranreicherungen sowie ohne Nachweis einer neu aufgetretenen malignomtypischen Nuklidanreicherung. Des Weiteren gibt es einige vorbeschriebene Metastasen, die aktuell nahezu keine pathologische Traceranreicherung mehr aufweisen …“ Capito? Grund zu feiern?
In den letzten Wochen gab es jedenfalls kaum Anlass, dem ungebetenen Gast besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Hätte er, der alte Störenfried, auch gar nicht verdient gehabt. Stattdessen die Batty Weber-Sache in Mersch, diesbezügliche – und völlig unerwartete – Glückwünsche seitens des Vorstandes von Jeunesse Esch, meinem Club seit mehr als dreißig Jahren, kurze Erholung im nordspanischen Restsommer inkl. munter durchwachsene Ergebnisse von Real Sociedad, meinem baskischen Lieblingsverein seit nun auch schon bald zwanzig Saisons, ausgiebige Lektüre, ein spitzer Kommentar zu diesem und jenem … mitsamt ziemlich häufig ziemlich kryptischen Reaktionen, die nur eine tastende Schlussfolgerung zulassen: Sind wir, ja, wir alle, dabei, in die allgemeine Verblödung abzudriften, oder haben wir in unserer „hysterisch-bigott hypermoralisierten Gesellschaft, wo wir angeblich so viel toleranter sind und libertärer“ (Thea Dorn), diesen Zustand, ohne es zu merken, längst erreicht?
Wie auch immer, übermorgen steht die erneute Durchführung einer Nierenfunktionsbestimmung auf dem Programm. Tut nicht weh, dauert bloß fünf bis sechs Stunden, verlangt also Geduld und reichlich Lesestoff im Rucksack. Kurz danach beginnen die Walfer Bicherdeeg 2017 – eine willkommene Ablenkung, auch wenn mein Tumor unbedingt mitkommen, den ganzen Trubel nun schon zum zweiten Mal miterleben will. Na gut, wenn er sich zu benehmen weiß, dann ist das halt so.    

Sonntag, 22. Oktober 2017

Eine Chronik (57)


In unserem Wohnzimmer, zwischen Tür und Kamin, steht ein Klavier. Vor dem Klavier steht ein höhenverstellbarer Klavierhocker, das heißt, die rechteckige Version eines Hockers, die auch noch als Pianobank bezeichnet wird, mit samtig sich anfühlendem Sitzpolster. Auf dem Klavier liegt ein Stapel Notenhefte, von Bach über Chopin bis Mozart und zurück. Neben dem Stoß Hefte steht ein Metronom, eines dieser Geräte, die durch akustische Impulse in gleichmäßigen Zeitintervallen ein konstantes Tempo vorgeben. An der Wand hinter dem Klavier hängt ein Bild von Lantz. Unser Freund hat noch nie eine Wüste betreten, aber eine Zeitlang malte er die schönsten Wüstenbilder mit den seltensten Wüstentieren, die man sich vorstellen kann. Hinter der Wand mit dem Wüstenbild kommt die Fassade unseres Hauses, die wegen ihrer exponierten Lage (Wind! Regen! Graupel! Schnee! Sonne! Hitze!) mit Schieferplatten verkleidet ist und die, fragte man sie, ganz andere Geschichten zu erzählen wüsste.
Ich kann mich, ehrlich gesagt, nicht erinnern, wo das Klavier herkommt. Fest steht nur, dass ich es nicht in dieses Haus gebracht habe. Dafür sind meine Arme zu schwach und meine zehn Fingerchen viel zu ungeschickt. Weder das Instrument noch Schemel oder Metronom waren demnach jemals für mich gedacht, und sie sind es bis heute nicht.
Stattdessen habe ich S. im Verdacht, dass sie das Klavier aus ihrer Jugend herüber ins Erwachsenendasein gerettet, aber ihre Ambitionen in Richtung Klavierspielerinnenkarriere längst aufgegeben hat. Ab und zu nimmt sie wohl noch auf dem Hocker Platz und klappt den Deckel hoch, um die 88 Tasten freizulegen. Doch eher sind lange Spielpausen die Regel. Zumal S. derzeit Probleme mit dem kleinen Finger der linken Hand hat. Er fühlt sich meistens taub an, manchmal aber auch schon beinahe wie abgestorben. Dabei hat ihr Klavierspiel ihr schon so manches Kompliment eingebracht, u. a. seitens unseres Malerfreundes Lantz, und immer wieder kommt es vor, dass ein Gast, so unmusikalisch er auch sein mag („Oh, ein Klavier! Ein Klavier!“), sie bittet, uns doch mal etwas vorzuspielen, der versammelten Gesellschaft eine Kostprobe ihres Könnens zu liefern oder, wie derbere Gemüter mitunter fordern, einmal kräftig in die Tasten zu hauen. Meistens kommt S. diesen Bitten und Wünschen nicht nach. Recht hat sie. Auch wenn sie, was durchaus vorkommt, mit einem gewissen Dünkel auf diejenigen herabschaut, die, wie ich, Makkaroni abkriegten, als sie beim Herrgott um Finger anstanden.
Für das Nudelbild bedanke ich mich bei der Tintenfisch-Kolumne in der Neuen Zürcher Zeitung. Es wird auch unserem Freund Lantz gefallen, da bin ich mir ganz sicher.

Samstag, 21. Oktober 2017

Eine Chronik (56)


Diese Tage, an denen sich der ungebetene Gast in eine schattige Ecke des Wohnzimmers verkriecht und ganz ruhig dort hocken bleibt. Diese Tage, an denen das Tier die Schnauze hält und sich selbstmitleidig die Pfoten leckt. Diese Tage, an denen der ständige Begleiter sich kurz verneigt und sich anschließend diskret verzieht, für eine Weile wenigstens. Diese Tage, an denen am frühen Morgen niemand die Zimmertür aufreißt und ekelhaft gut gelaunt in den Raum schreit, dass nun Zeit fürs Temperaturmessen sei, für den Blutdruck, die Herzfrequenz, das Bauchdeckenabtasten, das Kniescheibenbehämmern, die Kopfhautmassage, die Gelenkvibration, das Fußsohlenkitzeln … – nein, ich übertreibe. Soweit würden Krankenschwestern natürlich nie gehen. Und überhaupt, an diesen Tagen sind Behandlungszimmer, Messgeräte und Tropfständer mir so fremd wie die gruseligen Kreaturen an den tiefsten Stellen des Marianengrabens.
Diese Tage also, an denen es Wichtigeres zu tun gibt, als sich die Handlungen und Gedanken vom unerwünschten Begleiter vorschreiben zu lassen. Zumal bald, an diesem Montag, ein nicht ganz bedeutungsloses Rendezvous in meinem Kalender steht: 19:30, CNL in Mersch, Batty Weber-Preisüberreichung. Oder findet die Feier erst am kommenden Mittwoch statt? Der Kulturkolumnistin aus dem Luxemburger Wort ist die Sache mit dem falschen Datum auf den Einladungskarten heute jedenfalls schon eine humorige Glosse und einen gewagten Hollywood-Vergleich wert. Aber wer will in Weinstein-Zeiten schon mit der US-amerikanischen Filmindustrie in Verbindung gebracht werden?
Lese stattdessen ein Interview mit Edna O’Brien, in dem die irische Schriftstellerin mit dem trefflichen Satz „Die Geschichte eines Lebens ist im Körper ebenso enthalten wie im Gehirn“ zitiert wird. Und so werden auch Tage wie diese wieder vergehen und neue darauf warten, gelebt zu werden.

Dienstag, 10. Oktober 2017

Eine Chronik (55)

Gestern war Montag. Die Sonne schien, als wir von zuhause wegfuhren. Kurz nach zwölf sollte mir ein Zugang gelegt werden. Das war nicht einfach, wie nie. Schwester R. gab sich ernsthaft Mühe. Sie haben feine Venen, sagte sie. Leider liegen sie so tief, dass man sie kaum erkennen kann. Beim ersten Versuch im rechten Arm ließ sich die dicke Nadel nicht weit genug einführen. Wenn ich forciere, droht die Gefahr, ein Loch in die Venenwand zu stechen, sagte Schwester R. Der zweite Versuch, im linken Arm, klappte. Ich durfte wieder im Wartebereich Platz nehmen. Zum Glück hatten wir reichlich Zeitungen eingepackt, teilweise schon mehrere Tage alt.

Gegen zwei kam ich in die Röhre. Bitte alle Metallteile ablegen, sagte vorher die junge Angestellte. Tragen Sie ein Gebiss? Ohne Hemd und mit bis unter die Knie herabgelassener Hose lag ich auf dem schmalen Gleittisch, zugedeckt mit zwei Tüchern dünn wie Papier. Jetzt fangen wir an, sagte die Frau. Vierzig Minuten lang schob die Bahre mich hin und her. Tief einatmen, Luft anhalten, jetzt normal weiteratmen, sagte eine Männerstimme vom Band. Erst lagen zwischen ihrem zweiten und ihrem dritten Satz zehn Sekunden, dann zwanzig, schließlich fast eine Minute. So lange konnte ich noch nie tauchen, auch als Kind nicht. Alles in Ordnung?, fragte die Junge über Lautsprecher, bevor sie mir eine Flüssigkeit durch den Zugang in den Körper drückte, von der mir ganz heiß wurde. Hm, brummte ich.

Kurz vor drei darf ich zurück in die Umkleidekabine. Etwas später kommen Frau Dr. K und Univ.-Prof. Dr. med. M. mit den guten Nachrichten. Alles stabil, sagt der Professor mit ernster Miene. Stellenweise haben sich die Metastasen sogar zurückgebildet oder sind gänzlich verschwunden, sagt der Professor nüchtern. Das ist momentan das beste Resultat, das wir uns mit Ihnen zusammen wünschen können, sagt der Professor mit einem Lächeln. Um eine weitere positive Entwicklung Ihrer Situation zu gewährleisten, schlagen wir eine fünfte und sechste Therapiesitzung vor.

Mit Frau Dr. K. werden die nächsten Termine vereinbart. November: zunächst die übliche Nierenszintigraphie, in der Woche danach drei Tage Bunker. Gegen halb vier verlassen wir das Klinikum und fahren ins Stadtzentrum. In einem orientalischen Restaurant essen wir zu Mittag, S. gebackene Aubergine mit Hackfleisch und Tomatensauce, ich Köfte Ekmek. Wir sind so froh. Gegen halb sieben sind wir wieder zuhause. Wir sind so froh, dass uns die Tränen kommen.

 

Sonntag, 8. Oktober 2017

Eine Chronik (54)


Und hier der besagte Text von Charlotte Wirth, in d’Lëtzebuerger Land Nr. 40, 6. Oktober 2017: 
Luxemburgensia: „Muss weiterschreiben, weitermachen“

„Wie verändert die Krankheit den Blick auf sich selbst? Und den der anderen? Und den auf die anderen?“, fragt Georges Hausemer, fast nebensächlich, in einem kurzen Eintrag seines Blogs Ich und mein Tumor. Dabei steht diese Frage nicht nur im Zentrum von Hausemers ganz persönlichen und intimen Aufzeichnungen – Auszüge und Eindrücke seines Lebens nach der Diagnose Krebs –, sondern charakterisiert vielmehr das Genre der Krankheitserzählungen (illness narratives) im Allgemeinen. Ob Paul Kalanithis Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit im Bestseller When breath becomes air oder Nancys philosophische Abhandlung seiner Herztransplantation, L’Intrus: All jene Werke, die sich mit der eigenen Krankheit oder Sterblichkeit befassen, erzählen vom Suchen (und Finden?) der eigenen Identität, die durch die Krankheit radikal in Frage gestellt wird. Wer bin ich, wenn meine Krankheit das vereinnahmt, was mich ausmacht? Ist die Krankheit ein Teil von mir oder ein Eindringling?

Auch in Georges Hausemers Tumorblog werden diese Fragen immer wieder, mal direkter, mal indirekter, gestellt. Zwar macht der Schriftsteller wiederholt deutlich, sein Tumor möge zwar ein Teil seines Lebens sein, dieses sei jedoch nicht auf den Tumor reduzierbar, doch lässt sich die Krankheit nicht ausklammern. Arztbesuche, Blutabnahmen und regelmäßige Spritzen werden zur Routine und Hausemer ein alter Bekannter in der radiologischen Abteilung (dem „Bunker“, wie Hausemer ihn nennt), der nach und nach herausfindet, wie der Krankenhaushase läuft.

Vor allem aber das Sammeln und Aufzeichnen von schier endlosen Werten scheint den Schriftsteller nicht loszulassen: Blutdruck, Kreislauf, Temperatur ... immer wieder wird der Text von solchen Zahlen durchbrochen. Zahlen, die auf die Kluft zwischen Person und Patient hindeuten. Im Krankenhaus zählen weder Persönlichkeit, Lebenserfahrung, noch Interessen. Hier ist man nicht Schriftsteller oder Reisender, hier ist man Patient. Man wird untersucht, gemessen und gibt die Kontrolle über seinen Körper ab. An Ärzte und Schwestern, von denen Symptome und Diagnosen in unverständlichem Kauderwelsch diskutiert werden.

Hausemer selbst versucht sich unterdessen fortwährend von seinem Tumor zu distanzieren. Die Kluft zwischen Georges Hausemer, dem Menschen, dem Schriftsteller, und Georges Hausemer, dem Krebspatienten, besteht demnach nicht nur in der Sphäre des Krankenhauses, sondern zerreißt auch den Autor. So schreibt er von sich in der dritten Person, sobald es um den Krebs geht („der Patient“), wiederholt wie in Trance die zungenverdrehenden Namen von Medikamenten und Diagnosen und zählt lieber auf, was um ihn herum passiert, als in ihm. Oft hat der Leser den Eindruck, dass Hausemer sich auf alles konzentriert, mit Ausnahme seiner Krankheit. Und doch, so weit er auch reist, so sehr er ihr auch zu entkommen versucht, sie holt ihn immer wieder ein. Eine Erkältung wird zum Alarmzeichen, Muskelkater zum düsteren Vorboten. „Kein Tag ohne bange Fragen, sogar die unkomplizierten, die leichteren.“

Inmitten dieser Erfahrungen muss die Frage nach dem eigenen Ich neu gestellt werden. Bei Georges Hausemer geschieht dies auf eine sehr subtile Weise. Sein Weg mit der Krankheit umzugehen ist die der stillen Rebellion, die sich ganz um seine Existenz als Reisender und Schriftsteller, oder reisender Schriftsteller, dreht. „Du kannst mir das Leben schwermachen, doch du kannst mir die Freuden, die mich ausmachen, nicht vermiesen“, scheint er seinem Tumor trotzig entgegenzurufen. In der Tat sind Lesestoff und Notizbuch immer griffbereit – auch im Bunker. Für „ein paar flüchtige Notizen“ ist immer Zeit, zwischen Blutabnahme, CT oder Radiotherapie. „Muss weiterscheiben, weitermachen“, notiert Hausemer. Das Schreiben ist wie ein Anker inmitten der fragmentierten Existenz und es scheint nebensächlich, worüber Hausemer schreibt. Sein Blog ist kein Tagebuch, eher eine Aneinanderreihung flüchtiger Eindrücke. Literaturtipps und -kritiken wechseln sich mit Beschreibungen flüchtiger Begegnungen im Klinikaufzug oder Eindrücken von Hausemers letzten Reisen ab. Denn auch das Reisen lässt sich der Autor nicht nehmen. Genauso wenig wie das Verschlingen, Genießen und Zitieren aus literarischen Werken. Schreiben. Reisen. Menschsein. Das Leben ist zwar ein Leben mit Tumor, besteht aber nicht aus dem Tumor, geht klar aus Ich und mein Tumor hervor. „War in der Oper, las in der Sonne, lag am Strand, habe mich von Kamelen anhauchen lassen, neues Handy bekommen.“ Zwar verändert ihn die Krankheit, und Hausemer zeigt sich erstaunt darüber, wie viele Dinge ihn nicht mehr interessieren, doch das Wesentliche verändert sich nicht. Dem Tumor entgegensehen, „… während ich schreibe – und lese, lebe“, ist Hausemers Credo.

Es drängt sich die Frage auf, für wen, dieser Blog? Wenn es eine Schreibübung zur Verarbeitung der Diagnose ist, wieso dann in Blogform? Wieso öffentlich? Klar ist, diese Art des Schreibens kommt dem Autor zugute, ist die Aufzeichnung von Impressionen und Eindrücken doch eine Stärke des Schriftstellers. Das Schreiben über die eigene Krankheit ist indes ein mutiger Schritt, insbesondere in einer Gesellschaft, in der Krankheit und Sterben marginalisiert und wenig thematisiert werden. Die eigenen Erfahrungen zu teilen, kann nicht nur anderen Mut machen, sondern zeigt auch, dass man damit nicht allein ist. Wichtig ist in diesem Kontext, dass Hausemer kein „triumph narrative“ vorlegt. Es geht nicht darum zu zeigen, wie man die Krankheit besiegt, genauso wenig, wie es darum geht, sich selbst zu bemitleiden. Es geht vielmehr darum, zu vermitteln, dass das Kranksein zum Leben dazugehört. Ich und mein Tumor, ich mit meinem Tumor, Ich trotz meines Tumors, so die Nachricht an die Leser.

Georges Hausemer: Ich und mein Tumor: http://ghausemer.blogspot.com/

Samstag, 7. Oktober 2017

Eine Chronik (53)


Oha! Es gibt ein neues journalistisches Genre im Großherzogtum zu begrüßen, Abteilung Luxemburgensia: die Blogkritik. Meines Wissens wurden einheimische Blogger und die Beiträge auf ihren Webseiten bislang nicht in den Feuilletonspalten der Medien besprochen und in solchem Umfang gewürdigt. Seit diesem Wochenende und Charlotte Wirths Rezension dieses Tumor-Blogs im Lëtzebuerger Land hat sich das geändert. Doch auch im Ausland scheint die neue Kategorie noch nicht allzu weit verbreitet zu sein. Gibt man in einer der bekannten Suchmaschinen den Begriff „Blogkritiken“ ein, so erhält man ausschließlich Ergebnisse für „Buchkritiken“. Bekanntlich ist ein Blog aber noch lange kein Buch und die meisten Blogs werden – zum Glück – auch nie Bücher werden.

Als ich die Besprechung las, kam mir die Nähe von Tumor zu Humor in den Sinn. Für diese etwas abwegige Assoziation bietet Wirths Text nicht den geringsten Anlass. Stattdessen liefert er, meinem Empfinden nach, eine empathische Einschätzung seines Gegenstands, trifft den richtigen Ton und wird sowohl dem Ernst der Lage als auch der Ungleichartigkeit seines Themas vollauf gerecht.

Ich habe mich, zugegebenermaßen, über den Zeitungstext gefreut. Doch kaum war ich mit seiner Lektüre fertig, kam mir, wie häufiger in den letzten Tagen, der kommende Montag in den Sinn: nächster Krankenhaustermin, nächster PET Scan, nächste Spritzen und Infusionen. Für Montagabend nehmen wir uns einstweilen nichts vor, je nachdem, wie die Resultate ausfallen werden. Falls dann überhaupt Resultate vorliegen, auf die Schnelle.

Und irgendwann muss ich, nach mehrwöchiger Unterbrechung, ja auch mal wieder ausführlicher über den Anderen, den ungebetenen Gast, das Tier in mir berichten …   

Donnerstag, 24. August 2017

Eine Chronik (52)


Kein Zweifel, die Fledermaus wohnt bei uns. Aber wir wissen nicht, wo. Wir können nicht einmal sagen, ob es nur eine ist, oder zwei, oder gleich eine ganze Familie. Jeden Abend, kurz vor der Dämmerung, sehen wir sie am großen Wohnzimmerfenster vorbeifliegen, rasend schnell, von links nach rechts und zurück und sogar von oben nach unten, von unten nach oben.

Natürlich sind wir gegen die Domestizierung wilder Tiere. Doch wir schätzen ihre Gegenwart. Es tut uns sogar ein bisschen leid für all die Insekten, die sich die Fledermaus im Fluge schnappt, blitzschnell. Dabei, sagt man, verfügen Fledermäuse, die eigentlich Flattermäuse heißen müssten, über keine außerordentlichen Sehkräfte, sondern über ein Echoortungssystem und verwenden den Ultraschall, um sich in der Dunkelheit zu orientieren.

Bald wird es Herbst. Dann denken die Fledermäuse über den idealen Ort für ihren Winterschlaf nach. Aber noch ist es Sommer, und heute kein Tag für kleine Fische. Heute werde ich den Frosch am kleinen Teich besuchen, der aus nichts als einem großen Eimer aus schwarzem Hartgummi besteht, aber von einem Metallfrosch bewacht wird. Mehrmals schon haben wir den richtigen Frosch dabei überrascht, wie er sich vor, neben, einmal sogar auf seinen leblosen Artgenossen hockt und diesen verliebt anschaut, stundenlang, ohne sich zu rühren.

Die Frage nun lautet: Können auch Frösche mit der Wimper zucken? Und wie reagieren sie, wenn ihre Gefühle nie, nie, nie erwidert werden?  

Dienstag, 22. August 2017

Eine Chronik (51)


Es war eine der Begegnungen, die mich als Kind am meisten verfolgten. Wir, die Eltern und ich, hatten, gar nicht so weit von unserem Wohnort entfernt, ein Benediktinerinnenkloster besucht, in dem eine Tante – oder war es eine Cousine – meines Vaters als Nonne lebte. In einer Abtei der ewigen Anbetung.
Wir meldeten uns am Eingang an und wurden in ein Zimmer mit vier weißen Wänden, einem kleinen Tisch und einer einfachen Holzbank geführt, in dem es eiskalt war und wo wir eine Weile warten mussten. Erst während des Wartens fiel mir auf, dass man in eine der blanken Wände eine Art Fenster eingelassen hatte, das mit zwei Klappläden, ebenfalls aus Holz, verschlossen war.
Nach einiger Zeit ging die Klappe auf, wie ferngesteuert, und dahinter kam ein engmaschiges Gitter zum Vorschein. Zögernd näherten wir uns der dunklen Öffnung, hinter der eine leise Stimme uns begrüßte. Ich war vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Mein Vater stellte mich dem Schatten hinter dem Gitter als seinen Erstgeborenen vor. Ob sie, die Tante oder die Cousine, nun, da sie mich kennen würde, nicht ab und zu für mich und mein Wohlergehen beten könne?
Nun, mehr als ein halbes Jahrhundert später, halte ich ein Schwarzweiß-Foto der mit der Zeit namenlos gewordenen Benediktinerin in den Händen. Darauf zu sehen ist eine junge Frau mit einem runden Gesicht, einer Brille mit rundem Metallgestell und einem dunkel schimmernden Bartflaum an beiden Seiten der Oberlippe. Sie trägt einen weißen Schleier, der ihren runden Kopf einfasst wie ein zu eng geknüpfter Kragen und darüber ein Habit, der ihr über beide Schultern fällt. Sie hält den Kopf leicht schief. Als Schmuck baumelt eine miniaturisierte Monstranz vor ihrer Brust und noch weiter unten, auf dem Bauch, ein gekreuzigter Christus.
Von meiner Mutter habe ich unlängst erfahren, dass unsere Verwandte irgendwann Priorin ihres Klosters wurde. Damals, so sagte meine Mutter, habe die schweigsame und vor allem unsichtbare Nonne versprochen, fortan täglich nicht nur für mich, sondern für uns alle zu beten und für uns da zu sein, wann immer wir ihre Unterstützung benötigen würden.
Inzwischen, so musste ich erfahren, ist die Cousine – oder war es doch die Tante – meines Vaters verstorben. Es ist, soweit ich weiß, nun niemand mehr da, der, mit unmittelbarem Draht zum Himmel, für uns beten kann.

Wo Muskeln sind und Widerstand, ist kein Platz für den Krebs. Darum gehen wir immer noch schön regelmäßig ins Fitnessstudio, mein Tumor und ich. Er sträubt sich, natürlich, er will nicht bekämpft werden, nicht verdrängt, an der Gurgel gepackt und kräftig durcheinandergewirbelt werden, der alte Schlappschwanz. Aber ich kann, beim besten Willen, keine Rücksicht darauf nehmen, was mein Tumor so für Vorstellungen hat. Ja, ich wäre froh, wenn ich mal ohne seine ständige Begleitung unterwegs sein könnte. Darauf arbeite ich hin. Auch wenn niemand mehr für mich betet.

Sonntag, 20. August 2017

Eine Chronik (50)


Das Denken einstellen. Geht nicht. Die Hitze auf Sparflamme herunterdrehen. Geht manchmal, aber nicht wirklich. Dann springt, zum Glück, der tröstende Alltag dich an und im Nu hast du anderes im Sinn, während du auf der Wiese sitzt, unter dem Sonnenschirm, und es ganz allmählich zu tröpfeln beginnt. Rasen mähen zum Beispiel, Unkraut jäten, Mulch auftragen, welke Rosenblüten abzibbeln. Doch sogar bei der Gartenarbeit denkst du an das, woran du einmal für fünf Minuten nicht denken wolltest.

Nun stehen – endlich wieder – ein paar offene Tage an, leere Tage, die ebenfalls gefüllt sein wollen. Doch mit keinerlei Erwartungen verbunden sind, keine Forderungen stellen, keine Wünsche äußern, einfach kommen, gespannt darauf warten, wie mit ihnen umgegangen werden wird, und genauso einfach wieder gehen. An wem liegt es, am Ende? Worauf kommt es an?

Die Nachbarn zur Linken werden mir ihre Geschichten erzählen. Ich werde genau zuhören und mir alles merken. Während der Nachbar zur Rechten mit seinem lärmenden Aufsitzer unterwegs ist und alles klein macht, was ihm unter die Räder kommt.

Donnerstag, 17. August 2017

Eine Chronik (49)


Auch solche Tage gibt es, sogar mitten im herrlichsten Sommer. Schon in der Nacht, noch muht nirgendwo die frühe Kuh, setzen die Beschwerden ein. Eine Kehle, die sich wie verklebt anfühlt, Druck auf den Nieren, Stiche in der Rippenfellregion, jedes Schlucken kostet Kraft. Unruhige Minuten, die sich wie Stunden anfühlen. Eine Matratze, der Beulen wachsen. Ein Laken voller Schründe, Spalten, Schlitze, Risse und Furchen.
Kein Tag ohne bange Fragen, sogar die unkomplizierten, die leichteren. Gleich nach dem Aufwachen: die Scheu vor der ersten Bewegung. Das erste bewusste Atmen. Die mit halboffenem Mund eingesogene Luft, die sich von selbst ihren Weg durch den Körper sucht. Worauf wird sie stoßen. Was wird sie auslösen. Wie werden die einzelnen Organe reagieren. Wird der Krebs die Flucht ergreifen und sich in Sicherheit zu bringen versuchen. Wird er dem eindringenden Sauerstoff in die Quere kommen.
In den schweren Momenten kann, muss ich mir vorstellen, eines Tages zu ersticken, einfach so, von einem Moment auf den andern, völlig unerwartet. Das dauert nicht lange, hoffentlich. 

Samstag, 29. Juli 2017

Eine Chronik (48)


Manchmal frage ich mich, ob es bereits Dinge gibt, die ich nie wieder sehen, nie wieder tun, nie wieder erleben werde. Aber was, bitteschön, soll das sein? Ich habe sowieso nicht vor, mich jemals (wieder) von hinten auf einen Alligator zu werfen, ihm mit beiden Händen sein furchterregendes Maul zuzuhalten und mich so lange mit ihm im Schlamm zu wälzen, bis ihm die Kraft ausgeht und ich mich als Sieger des ungleichen Überlebenskampfes in Pose werfen kann. Dann schiebt sich allmählich der Schatten der Birken heran, ich rücke Tisch und Stuhl weiter nach links, wo er noch nicht hinfällt. Doch es ist bloß eine Frage von Minuten. Oder ob ich mich dazu aufraffen kann, mir die Gartenerde vom Körper zu waschen, eine lange Hose anzuziehen und mir ein langärmeliges Hemd überzustreifen. Schleimende Nacktschnecken sind im Moment, Gott sei Dank, keine unterwegs. Umso ungeduldiger warte ich auf den nächsten unerwarteten Zwischenfall, nein, ein kleine Beiläufigkeit macht mich auch schon froh. Allein die Vorstellung, dass mir zu banalen Gegenständen wie Küchenschränken, Wanderschuhen, Teigrollen, Badehosen, Brotmessern kleine Geschichten einfallen, vielleicht auch nur ein einziger Satz, möglicherweise auch zwei oder drei, wenn ich Glück habe. Wie neulich, als auf einmal ein Strandstuhl mich beschäftigte und mir spontan Bilder in den Sinn kamen, wie auch er, nicht nur die Birken, Schatten wirft, sich in den Sand bohrt, mit allerlei Dingen behängt wird, Gewichte tragen und Hitze ertragen muss, Nässe und Wind, klebrige Armlehnen, wie unzuverlässig der Untergrund ist, auf dem er steht, der Sandstuhl, dass er gerne mal umkippt, davonfliegt, seiner Freiheit entgegen, einfach nur auf und davon. Unverhofft wirft dann eine junge Barbusige, die sich auf einem Badetuch ausgebreitet hat, mit einer Handvoll Sand nach einer Möwe, die sich ihr mit forschen Trippelschritten nähert, ihrer Mütze, ihrem Rucksack, ihrem Nagellack, der Ananasfrisur auf ihrem Kopf.

Apropos Sommer: Wer in diesen Tagen in Urlaub fahren will, sollte vorher noch schnell das Buch „Schrecklich schön und weit und wild. Warum wir reisen und was wir dabei denken“ von Matthias Politycki lesen. Vielleicht möchte er dann doch lieber zuhause bleiben.

Donnerstag, 27. Juli 2017

Eine Chronik (47)


Heute erhielt ich eine E-Mail-Nachricht von Maure Decuevas. Darin heißt es: I’m only like you. I put in my time and perform hard. Understand what sucks? It’s never gotten me something. Aside from underpaid and under appreciated. Now I work smart not difficult. Have a look at what I suggest NOW: There’s perhaps not many openings. Hurry upward. Learn how.

Ich kenne keine Frau namens Maure Decuevas – auch keinen Mann. Selbstverständlich habe ich den mitgeschickten Anhang nicht geöffnet, aus Sicherheitsgründen. Weil immer gesagt wird, man soll Mail-Anhänge von unbekannten Absendern nicht öffnen, wegen Viren und so. Aber interessiert hätte es mich schon. Weil ich mit dem Text der Mail nicht wirklich etwas anfangen kann. Vielleicht ist mein Englisch zu schlecht, vielleicht stehe ich auf dem Schlauch. Aber was will Maure Decuevas mir eigentlich mitteilen? Die – oder der – aus den Höhlen. Mein Gefühl sagt mir, dass ihr – sein – Englisch nicht ganz sattelfest ist. Aber ich kann mich irren. Doch was bedeutet ein Satz wie „Now I work smart not difficult“? „Smart not difficult“ – was soll das sein? Vielleicht sollte ich Maure Decuevas zurückschreiben, auf Luxemburgisch, warum nicht. Möglich, dass ich der Lösung des Rätsels dann näherkomme.

Die Himbeermarmelade ist übrigens ziemlich lecker geworden, während das Johannisbeergelee ziemlich sauer schmeckt. Auch das eine Frage der Übung. Leider sind die Sträucher schon bald abgepflückt, nur die Minze wächst fleißig weiter.

Bevor ich gestern im Internet Blicke in diverse Bücher warf, hatte ich das Wort „Georgettegardinen“ noch nie gelesen.

Dienstag, 25. Juli 2017

Eine Chronik (46)


Vor bald vier Wochen also: 4. Therapiezyklus, Nuklearstation, Etage -2, Zimmer 7, wie schon dreimal zuvor. Draußen hochsommerliche 35 Grad, schon kurz vor neun Uhr morgens. Bevor die übliche Prozedur beginnen kann, muss ich mich bei der Verwaltung anmelden, diverse Einverständniserklärungen unterschreiben, Telefon- und Fernsehkarte lösen. Danach endlich Köfferchen auspacken, mitgebrachtes Kopfkissen auf dem Bett drapieren, Bücher, Zeitungen und Notizhefte auf dem Tisch ausbreiten. Schon kommt Schwester Gabi, gut gelaunt wie immer. Körpertemperatur: 37,5. Blutdruck 131/80. Leicht erhöhter Pulsschlag. Sind Sie aufgeregt?, fragt Schwester Gabi. Ja, vielleicht. Oder es ist die Hitze.
Fragte mich neulich: Wie verändert die Krankheit den Blick auf sich selbst? Und den der anderen? Und den auf die anderen?
Es gibt zu tun, bevor der Tropfständer hereingerollt wird. Diverse Papiere: Essenswünsche ankreuzen, Allergien, regelmäßig eingenommene Medikamente, Brillenträger. Irgendwelche Implantate? Sonstige Fremdlinge im Körper? Und ob! Deswegen bin ich schließlich hier. Danach schleppt sich der restliche Vormittag träge dahin. Einmal schreit eine Frau über den Flur: Bei uns auf dem Land feiert jeden Tag eine Kuh Geburtstag. Lautes Gelächter. Doch erst um 13 Uhr kommt endlich Schwung in die Bude. Venensuche, zuerst vergeblich. Dann wird Dr. N. fündig: rechts in der Armbeuge, links am Handgelenk. Fast erkenne ich Dr. N. nicht wieder. Kann es sein, dass er seit dem letzten Mal etliche Kilos abgenommen hat?
Erneutes Warten. Als die diversen Flüssigkeiten endlich zu tropfen beginnen, überschlagen sich die Blutdruckmessungen förmlich: 15:00 Uhr: 125/90 – 15:45 Uhr: 124/90 – 16:24 Uhr: 139/79 – 17:25 Uhr: 144/96. Und was haben diese Zahlen nun zu bedeuten? Niemand verliert darüber ein Wort.
Es war der längste Tag des Jahres, aber ich hatte nichts davon. Außer dass es draußen so hell war, dass ich lange nach Mitternacht immer noch nicht einschlafen konnte. 


Donnerstag, 20. Juli 2017

Eine Chronik (45)

Eigentlich bin ich dauernd verliebt. Nein, nicht in irgendwen, in irgendwas. In ein Buch beispielsweise – derzeit in „Eine Schachtel Streichhölzer“ von Nicholson Baker, von 2003, also schon ziemlich alt, eine Empfehlung von David Wagner, der in seinen Büchern häufig interessante Bücher anderer Autoren empfiehlt –, in ein Bild, ein Musikstück, einen Film – schon seit einem halben Jahr in „Paterson“, Jim Jarmuschs Verfilmung eines Gedichts von Carlos William Carlos, äh, sorry, von William Carlos Williams, in meine Partnerin natürlich, in Länder – Georgien etwa –, in Serviererinnen und Metzgereifachangestellte, in Städte – Tiflis, was sonst –, in Friseurinnen (meine allerliebste heißt nicht zufällig Susanne), in Fußballmannschaften, in die schöne Schusterin aus Aachen, in medizinische Fachassistentinnen, z. B. die, die mich neulich in die Dosimetrie-Röhre schob und vorher zärtlich ein Polyesterdeckchen über meine nackten Beine ausbreitete, in einen Zeitungsartikel, in meinen Automechaniker, nachdem er den verrücktspielenden Bordcomputer wieder zur Vernunft gebracht hat, in die Stimme der Führerin durch das Paradjanov-Museum in der armenischen Hauptstadt Eriwan (in die ich mich damals übrigens auch spontan verliebt hatte, also in die Stadt Eriwan, sowie in die beiden jungen Damen, die in der Hauptpost von Eriwan angestellt waren, aber nichts zu tun hatten und sich stattdessen gegenseitig fotografierten, mit je einem riesigen Hochzeitsstrauß – rosa Rosen! – im Arm; davon habe ich übrigens auch ein Foto gemacht, ich könnte es Ihnen jederzeit zeigen, es ist bloß ein wenig unscharf geworden), in die Sonne, in der ich sitze, während ich dies schreibe, mit der Hand, in einen großen Spiralblock. 
Der letzte Therapiezyklus liegt bereits drei, nein, bald vier Wochen zurück, ich kann mich schon fast nicht mehr daran erinnern, zum Glück habe ich ein paar Wörter darüber in mein giftgelbes Notizbuch gekritzelt, ich will mich gar nicht mehr daran erinnern, nicht jetzt, dabei ging alles gut, die Resultate waren ermutigend, die „stable disease“ ist stabil wie gehabt, die nächste Kontrolluntersuchung steht erst Anfang Oktober an, vor mir ein ganzer Sommer, um mich mit dem Garten, Übersetzungen, Himbeer- und Johannisbeermarmeladen zu beschäftigen, mich regelmäßig in Ralfs Körperfabrik ins Schwitzen zu bringen, die Oktoberrede vorzubereiten, Gäste in kurzen Hosen und lauen Blüschen zu empfangen, die neuen Zeichenstifte aus Alkmaar auszuprobieren, mich in die Unterwäscheverkäuferin aus dem Nachbarort zu verlieben, spanischen Nacktschnecken zu einem kurzen, schmerzlosen Tod zu verhelfen, Manuskripte zu lektorieren, mit der (hoffentlich) nur gespielt knurrenden S. Frauenfußballmatches zu schauen (bisher keine Offenbarung), mit S. schon am frühen Nachmittag unter den Birken Sekt (alkoholfrei!) zu trinken, einen hübschen Zeitungshinweis auf das neue Buch von Tomas Espedal zu lesen: „Schriftsteller zu sein ist kein Ponyhof“ lautet der Untertitel, der des Artikels, nicht der des Buches, das „Biografie, Tagebuch, Briefe“ heißt –seltsamer Titel.      
Andrzej Stasiuk sagte einmal: „Die polnische Sprache dient dazu, die Welt schwärzer zu malen, als sie ist.“ Und eben ist, wie in „Paterson“, ein schwarzweißes Stück Stoff vom Dach gefallen. Oder war es eine vom Hagelschauer erwischte Taube? Morgen früh muss ich zur 14-täglichen Blutabnahme. S. kommt mit, wie fast immer.

Freitag, 16. Juni 2017

Eine Chronik (44)

Gestern: Frühstück im Grünen. Ab und zu, mit dem einen oder anderen Windstoß, weht ein süßliches Duftwölkchen heran. Komme erst durch den Hinweis von S. darauf, dass Parfüms ja – angeblich – aus Veilchen, Rosen und anderen Blümchen gemacht sind und sich keineswegs hinter einer der Hecken, unter einem der Sträucher eine Dame versteckt, die zu viel des Riechwässerchens aufgetragen hat – wo kommen nur plötzlich all diese Verniedlichungen her?

Bis zum Abend ist der Wohlgeruch vergangen. Stattdessen erschrickt uns der Anblick der erst vor zwei Tagen gekauften Lebensmittel. Die Basilikumstängel sind vor lauter Mattigkeit umgeknickt; die ersten Champignons setzen Schimmel an; die Rosen lassen die welken Köpfe hängen; die Ananas ist überreif und angefault. Dann plötzlich kann man das aufziehende Gewitter riechen, den Regen, der bald niederprasseln und Erde und Gras zum Dampfen bringen wird.
Während draußen die Sintflut naht, lese ich über die Würfelqualle, eines der für Menschen tödlichsten Tiere überhaupt. Wenn sie aus ihren mehr als einen Meter langen Tentakeln genügend Gift injiziert, kann sie einen Menschen in weniger als zwei Minuten töten. Bislang wurden Würfelquallen hauptsächlich im fernen Australien gesichtet, neuerdings lassen sie sich auch in Thailand, der Karibik, Indien und Südafrika und sogar an der walisischen Küste blicken. Da muss ich zum Glück nicht (mehr) hin.
Heute: Training in der Muckibude, wie ziemlich regelmäßig in letzter Zeit. Bei erhöhter Außentemperatur sind alle Fenster geöffnet, trotzdem schwebt ein etwas strenger Duft durch den Raum. Doch zur Mühe gehört das Schwitzen dazu. Zumindest während des Radelns bleibt, trotz bässelastiger Musikbeschallung, Zeit zum Lesen, na ja, zum Durchblättern diverser Illustrierten. Auch in einem dieser Blätter ist von tödlichen Naturgefahren die Rede, aber bloß im Zusammenhang mit der zweiten Staffel der Serie „Wayward Pines“, die man anscheinend gesehen haben muss.

Donnerstag, 15. Juni 2017

Eine Chronik (43)


Tut mir leid – nein, nicht wirklich –, aber diesmal muss der blinde Passagier zuhause bleiben. Auf einem Segelschiff sind ungebetene Gäste nicht geduldet, selbst wenn der Kutter vielsagend Nirwana heißt. Sämtliche Kajüten sind belegt, Sessel gibt es sowieso keine, auf den Holzbänken im Gemeinschaftsraum ist kein Platz für überzählige Esser und Trinker, denn an den langen Tischen der Zeit, wie Paul Celan dichtete, „zechen die Krüge Gottes“ und sonst niemand.

27 Mann hoch, darunter auch etliche Damen, lassen sich kommod übers IJsselmeer schaukeln, mal sanft, mal heftiger. Doch so ganz ohne eigenes Zutun geht das nicht. Ab und an müssen Klüver, Fock, Besan und Großsegel gesetzt und auch wieder eingeholt werden. An dicken Seilen ist zu ziehen, schwere Stoffbahnen müssen aus- und sorgfältig wieder eingerollt werden, damit keine „schwangeren Elefanten“ entstehen. Und auch um die Verpflegung der Teilnehmer sowie der Crew muss sich gekümmert werden, wenn kein Smutje an Bord, der nächste Caterer seemeilenweit entfernt ist. Nicht zu vergessen die Unterhaltung an sowie unter Deck, zu der jeder Gast sein Bestes beitragen muss, und sei es, dass er ab und zu ein Liedchen anstimmt oder beiläufig ein paar Grimassen schneidet.

Auf mehr oder weniger hoher See, selbst beim Trockenfallen auf einer Sandbank im Wattenmeer werden die Wünsche bescheidener, die Erwartungen geringer. Hauptsache, die Kleidung wärmt, der Magen ist gefüllt, die Sonnencreme schützt und die Unterwäsche bleibt trocken. Nicht einmal die diversen Pillchen und Tröpfchen in meinem Gepäck kommen zum Einsatz. Nichts meldet sich, kein Druck auf der Brust, kein Ziehen im Rücken, kein Zwicken im Magen. Für Stunden kommt kein noch so beiläufiger Gedanke an den Daheimgelassenen auf. Alles konzentriert sich, wie ein immer enger werdender Kreis, der irgendwann in der Mitte zu einem kaum noch sichtbaren Punkt zusammenschrumpft, auf die Nirwana, ihre momentane Besatzung, die Kommandos der Skipperin und der Matrosin, das erstaunliche Verhalten von Lobke, dem Bordhund.

Am Ende legt der Zweimastklipper an drei Tagen 70 Seemeilen zurück, etwa 130 km, trotz anfänglicher Flaute und unberechenbaren Windwetters zwischendurch. Nicht schlecht für maritime Dilettanten wie uns, denen der Tod in diesen Tagen nur durch Ertrinken möglich scheint!      

Nach der Rückkehr aus den entspannten und entspannenden Niederlanden lese ich in Tomas Espedals „Biografie, Tagebuch, Briefe“: „Es ist nicht schwer, über den Tod zu reden. Wir reden unablässig über den Tod. Wir reden über den Garten und den Nachbarn, der Tod ist da. Wir reden über unsere Eltern und Kinder, der Tod ist da, und wir können nicht anders, wir vergessen und reden über all das Gute, das gewesen ist, und der Tod war schon damals da, und egal, worüber wir reden, der Tod ist in jedem einzelnen Wort und in jedem Atemzug und in dem kleinsten Bestandteil von dem, was wir sind …“

Donnerstag, 1. Juni 2017

Eine Chronik (42)

Die ereignisreichen Tage in Luxemburg sind vorbei: Batty Weber-Preis-Bekanntgabe, Lesung mit David Wagner in Mersch, Autokontrolle in Esch, Besuche bei Freunden, Zeit für die Mutter …
Nun wieder Donostia: vorzeitiger Sommer, Stunden am Strand, Sonnencremedüfte, Flanieren am Meeresufer, wo die Wellen kommen und gleich wieder Richtung Ebbe zurückweichen, im Rhythmus eines gesunden, sanft atmenden Herzens. Gleichzeitig die nackten Fußsohlen auf dem festen, sandigen Untergrund spüren – angenehmere Momente gibt es selten (auch wenn die Wolken sich unerwartet zu einem fiesen Trump-Portrait hoch über dem Atlantik zusammenballen).
Zudem noch die Zeitungslektüre – Fußballberichterstattung, Wettervorhersagen, lokale Geschichtchen, internationale Neuigkeiten, Leserbriefe – … ein Genuss. Und Anlass zu eigenen Notizen. Sowie die täglichen Kontakte zu den Einheimischen: der Zeitungsverkäufer, der jeden Morgen eine pertinente Bemerkung zum Tagesgeschehen parat hat; die Fischhändlerin mit den neuen Zähnen und dem Ehemann, der gerne kernige Sprüche über seine Frau zum Besten gibt, die Kolumbianerin, die Zuckerwaren und Mineralwasser verkauft und sich nett bedankt für meinen Dank in gesiezter Form (die gnadenlosen Duzer gewinnen in Spanien immer mehr Oberwasser), all die Kellner und Bäckereidamen, die Strandlieger und Rumläufer, die Obstverkäuferinnen und Strandputzmänner – eine andere Welt, ein anderes Leben fast, locker überschrittene Grenzen, wieder und wieder.
Die letzten Tage verbringen wir mit B. und R., den liebenswürdigen Freunden aus dem Eifeldorf. Schon erstaunlich, wie schnell und locker die beiden mit den Donostiarras zurechtkommen, ohne ein Wort Spanisch zu sprechen und auch ansonsten nicht viel Fremdsprachliches zu beherrschen. Von Baskisch ganz zu schweigen. Wir reden dann halt mit dem Zeigefinger, erklärt R. eines Morgens mit einem herzhaft angebissenen Schinkenbrötchen in der Hand und einem kleinen schwarzen Kaffee vor sich auf dem Terrassentischchen. Und es funktioniert.


















Mittwoch, 31. Mai 2017

Eine Chronik (41)


Dieses Jahr fand der Frühling am 24. April statt. Verbrachte den Tag, nach 72-stündigem Bunkeraufenthalt, im Freien, mit Strohhut und Lippenschutz. Erfreute mich an der Botanik. Schnippelte an diversen Büschen herum, knipste die im Winter geschrumpelten Hagebutten der Rosenzweige ab, zupfte Unkraut und lockerte den Boden rund um den Himbeerstrauch. Tim mähte die Wiese. Setzte mich vor der Buchenhecke in die Sonne. Spazierte nach kurzer Rast auf der Holzbank kreuz und quer über das Grundstück, unter den Apfelbäumen hindurch, am Haselnussstrauch vorbei, hinüber zum Flieder, am Efeu vorbei, an der Trockenmauer entlang, verharrte kurz im Schatten der Eibe. Bückte mich hinunter zum kanadischen Ahorn, fasste an die Blüten des vielästigen Gewächses, dessen Name uns bisher niemand verraten konnte. Tim mähte weiterhin die Wiese. Schnupperte das Aroma der noch hauchfeuchten Erde, riss die restlichen, längst faulen Zieräpfel ab, vertiefte mich in den portugiesischen Lorbeer, nahm die Buchsbäume, die bald mal wieder geschnitten werden müssen, in Augenschein.
Als Tim mit dem Mähen der Wiese fertig und mit seinem nagelneuen Motorrad davongefahren war, wälzte ich mich ausgiebig auf dem eben gekürzten Rasen. Wie das duftete! Und wie angenehm fühlte sich die Wärme an, die aus der Erde aufstieg, nachdem die Sonne sie ein paar Stunden lang beschienen und getrocknet hatte. Schließlich lag ich einfach nur da, auf dem Rücken, mit ausgebreiteten Armen und Beinen. Lange musste ich nicht warten. Da kamen die ersten Spatzen, Meisen und Rotkehlchen angeflogen und ließen sich ganz in meiner Nähe nieder. Anfangs zwitscherten sie aufgeregt drauf los, dann, als ich mich nicht rührte, verstummten sie. Aus den Augenwinkeln behielt ich sie im Blick. Sie mich ebenfalls. Reglos belauerten wir einander. Wer würde als erstes die Geduld verlieren, sie oder ich? Das Zuschlagen einer Autotür sorgte für die Entscheidung. Sie lautete: unentschieden. Denn im selben Moment, in dem ich zusammenzuckte, flogen auch die Vögel auf und davon.
Hoffentlich muss Tim bald wiederkommen, um von neuem die Wiese zu mähen.      

Sonntag, 30. April 2017

Eine Chronik (40)


7:10. Schwester Rita schneit mit gleich mehreren Wünschen herein. Sie möchte nicht nur Körpertemperatur (36,4) und Blutdruck messen (126-84-84), sondern auch noch frisches Blut abzapfen, an einer neuen, noch jungfräulichen Stelle in der linken Armbeuge. Trotz meiner inzwischen rundum bekannten Venenschwäche sitzt gleich der erste Nadelstich. Es laufe wie ein frisch gezapftes Bier, scherzt die, die ansonsten zum Lachen eher in den Keller zu gehen scheint.

8:10. Mitten im Frühstück ruft die E.Cam zur nächsten Untersuchung. Oh, welch nette Überraschung! Die junge Blonde ist wieder im Einsatz, heute ohne Ausschnitt, dafür mit einem schicken grobmaschigen Pulli, der verführerisch glitzert. Bevor sie mich mitsamt Tisch unter die Kamera schiebt, breitet sie bedächtig eine hauchdünne Papierdecke über meine Beine und Füße aus.

Gleich anschließend wartet der SPECT-TC. Werde dort von einem holländischen Praktikanten empfangen, der in seiner grünen Schürze aussieht wie der trottelige Fleischer aus der zweiten Staffel der US-amerikanischen Fernsehserie „Fargo“ (unbedingt zu empfehlen!), von dem wir noch nicht wissen, ob er irgendwann einfach dran glauben muss oder vorher noch grausam gequält werden wird. Der angehende Pfleger möchte sich mit mir unterhalten, während wir darauf warten, dass seine ältere Kollegin die erforderlichen Knöpfe drückt. Leider klingt sein Deutsch so niederländisch, dass ich kaum einen seiner Sätze verstehe.

9:30. Endlich kann ich fertig frühstücken. Und erfahre hoffentlich bald, wann ich heute entlassen werde. Muss ja S. anrufen, sie war jetzt zwei Tage in Luxemburg und soll mich auf der Rückfahrt abholen kommen. Damit unser normales Leben weitergehen kann.

11:00. Dr. H., der Oberarzt, kommt mit dem üblichen Briefchen, fragt nach dem Befinden und lädt zum vierten Therapiezyklus in gut acht Wochen ein, vom 21. Juni, Sommeranfang, bis zum 23. Juni, luxemburgischer Nationalfeiertag. Vorherige Untersuchungen werden diesmal nicht nötig sein. Nur etwa alle zwei Wochen soll ich beim Hausarzt die Blut- und Nierenwerte kontrollieren lassen.

SMS an S.: Sie kann kurz nach 12:00 am „Kiss&Drive“ vorfahren. Eigentlich müsste ich noch bis drei im Haus bleiben, sagte Dr. H., „aber wir wollen mal nicht päpstlicher als der Papst sein und Sie unnötig hier festhalten“. Doch verraten soll ich das niemandem. – Nein, keine Sorge, ich werde es nur in einem Nebensatz in meinem Blog erwähnen, ich schwör’s. (Das habe ich natürlich nicht zum Oberarzt gesagt …)

Freitag, 28. April 2017

Eine Chronik (39)


Wäre es nicht langsam an der Zeit, meinem inneren Mitbewohner, meinem neuen Gefährten, dem Tumor einen Namen zu geben? Nun, nachdem wir seit gut einem Jahr miteinander bekannt sind. Nun, ich weiß von ihm. Ob er auch von mir, das hat er, der Scheißkrebs, mir bislang nicht verraten, der Feigling.

Eine Frage, auf die man kommt, wenn man zu viel Esterházy liest, sich zu lange in sein „Bauchspeicheldrüsentagebuch“ verkriecht, wo der Krebs mal als Fräulein vorgestellt, mal wie eine Geliebte gehätschelt, dann wieder verflucht wird, wo der Autor es hemmungslos mit ihr treibt, sie zum Teufel wünscht, sie ihn langweilt, er sie als seine kleine Sonne, als liebes Licht anspricht, als Süße und Teure, die ihn am liebsten verzehren, aufessen, auffressen, ihn sich einverleiben, ihn vernichten würde.

Kleine Biere trinkt man zu Oliven. Doch hier werden einem weder kleine noch große Biere und auch keine Oliven serviert. Hier kommt während der Anwesenheit des Patienten ja nicht einmal jemand zum Sauber- oder sonstigen Machen. Nur gestern sah ich einmal kurz, als die Schiebetür einen Spalt breit offenstand, eine kleine, ältere Türkin mit Kopftuch und Wischmopp über den Flur huschen, grußlos. Kurz darauf klopfte ich mein Bettzeug halt selber auf und zog das Laken glatt.

Auf den Spuren Esterházys ist nun der Moment gekommen, da ich verraten muss, dass verschiedene Leute mir gegenüber in letzter Zeit ziemlich emotional geworden sind. Was ich in den meisten Fällen nicht ausstehen kann. Weshalb ich ja auch diesen Blog verfasse und an die Öffentlichkeit bringe, damit die Krebsstory nicht wieder und wieder von neuem erzählt werden muss, sondern ich mich darauf beschränken kann, einfach die Blog-Adresse durchzugeben und alles Weitere einfach geschehen zu lassen. Sonderfragen können danach immer noch individuell beantwortet werden, falls Bedarf besteht. Und zur Abwechslung könnte ich eine Weile barfuß herumlaufen, nun, da der Frühling … Frühling! Minus fünf Grad nachts, maximal vier Grad am Tag. Ehrlich, ich scheiß auf diesen Frühling, boah ey, echt Mann, Alter!

17:00 Uhr, neueste Messungen: 126-86-84; Körpertemperatur: 36,4. Schwester Rita ist sehr zufrieden.

Anschließend esse ich eine meiner mitgebrachten Mandarinen. Oder zwei. Und ein paar Manner-Schnitten, Original Neapolitaner, in Erinnerung an Herrn Carl Manner aus Wien, den ehemaligen Firmenvorstand und Aufsichtsratsvorsitzenden des Unternehmens, der, wie heute Morgen in der Zeitung zu lesen war, kürzlich mit 87 Jahren verstorben ist, nachdem er immer noch täglich an seinem Schreibtisch gesessen hatte, bis zum letzten Atemzug.

Die Manner-Waffeln kenne ich noch aus meiner Universitätszeit in Salzburg. Sie waren mir gewissermaßen ein studentisches Grundnahrungsmittel. Aber seither hat sich ihr Geschmack, so kommt es mir vor, wesentlich verändert, ja, verschlechtert. Früher schmeckten sie besonders, unvergleichlich, heute haben sie sich dem Geschmack vieler vergleichbarer Knuspereien angepasst. Nur die rosa Verpackung ist geblieben und löst nostalgische Gefühle aus.   

Mittwoch, 26. April 2017

Eine Chronik (38)

Wo sind eigentlich die typischen Krankenhausgerüche von früher hin? War das Chlor? Irgendein Reinigungs-, ein Narkosemittel?

Erste Zahlen am Morgen kurz nach sieben: 142-85-95.

Noch während ich frühstücke, tritt unerwartet der Klinikdirektor, Dr. M., ins Zimmer. Es ist hier nicht üblich, einander mit Handschlag zu begrüßen, wegen, nehme ich mal an, Ansteckungsgefahr oder so. Er wiederholt, was gestern Dr. H. bereits berichtete: Es gibt keine neuen Infektionsherde, das Wachstum der kranken Zellen ist einstweilen gebremst, der englische Fachbegriff für die derzeitige Situation lautet: „stable disease“.

Kaum ist der Doktor wieder gegangen, werde ich zur nächsten Szintigrafie gerufen. Aber ich muss doch noch Zähne putzen, Hose, Hemd und Schuhe anziehen! Ich laufe doch nicht ungewaschen im Pyjama auf den Klinikfluren herum … Gut, sagt Schwester Rita, dann hole ich Sie erst in einer Viertelstunde ab.  

Leider hat die hübsche Blonde mit dem orangenen T-Shirt und dem kecken Dekolletee, die mir beim letzten Mal so zärtlich die Hemdsärmel hochkrempelte, als ich vor ihr auf dem Schiebetisch der E.Camera lag, heute keinen Dienst. Osterferien? Nun, ihre dunkelhaarige Kollegin ist auch sehr nett und holt mich nach 15 Minuten bereits wieder aus der Röhre.

Zurück aufs Zimmer. Ob ich noch einen frischen Kaffee möchte, fragt Schwester Rita. Warum nicht, der Tag ist noch lang und momentan sind für heute keine weiteren Untersuchungen vorgesehen. Zeit zum Lesen, Schreiben, Ausruhen, was leicht fällt mit der aktuellen Diagnose. „Stable disease“ klingt gar nicht so erschreckend, ja, geradezu ermutigend unter den gegebenen Umständen.

Bedauerlicherweise musste ich die für heute geplante Lesung in B. kurzfristig absagen. Hatte schon so etwas geahnt, obwohl die Therapietermine stets ein paar Wochen im Voraus festgelegt werden. Aber ein verändertes Blutbild, schwächelnde Nieren können jederzeit dafür sorgen, dass das ursprüngliche Programm über den Haufen geworfen werden muss. Statt am Abend vor Publikum zu sitzen und, wie angedacht, die tierische Titelgeschichte aus dem neuen Buch vorzulesen, werde ich um diese Zeit auf einem unbequemen Stuhl hocken, Nachrichten und anschließend ein Europa League-Spiel anschauen. Gelesen und geschrieben habe ich bereits den ganzen langen Tag über, hinter geschlossenem Fenster, ohne frischen Sauerstoff, so dass mir der Kopf nun leer und dumpf vorkommt.

Montag, 24. April 2017

Eine Chronik (37)


Heute kein Mittagessen. Schade. Hatte Cordon bleu angekreuzt. Aber das vertrage sich nicht mit den Flüssigkeiten, die mir gleich gespritzt werden, erklärt eine Schwester, mit der ich bisher nie zu tun hatte. Es kann zu Übelkeitsgefühlen und Erbrechen kommen, darauf möchten wir doch lieber verzichten, nicht wahr?

142-85-95.

Werde anschließend, auf dem Bett liegend, an zwei Tropfsäckchen gehängt: Nierenschutzmittel und Cortison. Lese Darvasi und erfreue mich am Nichtstun. Auch das schlaucht. Mmmhh, kein Wunder bei all den Kanülen und Röhrchen, die vom Ständer über diverse Mittelstücke geradewegs in den Körper hineinführen. „Das gute Gift, der lebensspendende Saft“, werde ich später bei Esterházy mit dem Bleistift unterstreichen. Einstweilen bin ich damit beschäftigt, die Flüssigkeitstüten im Auge zu behalten und darauf zu achten, dass das Tröpfeln nicht unterbrochen wird. Die Geschwindigkeit, mit der die Tropfen sich ihren Weg bahnen, kann ich beeinflussen, indem ich den Arm mit dem Zugang mehr oder weniger strecke, ihn ein bisschen anhebe oder ihn weiter nach unten hängen lassen, mich im Bett auf den Rücken oder auf die Seite drehe. Man macht so seine Erfahrungen, sogar im Liegen.

Zweieinhalb Stunden später: 139-84-91. Die gelbe Tüte ist noch halb voll. Gegen 17 Uhr: 144-92-89. Kurz vor 18 Uhr wird doch noch mein Cordon bleu serviert. Es ist nur lauwarm und die Panade ein wenig matschig. Mit dem Kartoffelpüree und dem Tomatensalätchen schmeckt es trotzdem.
19 Uhr: Uff! Bin nun endlich ab- und ausgestöpselt, sieben Stunden später. Bald beginnt das Viertelfinalspiel in der Champions League. Ein wenig Abwechslung. Bin die beiden sterbenumschwirrenden, todumkreisenden Ungarn nun auch schon ein bisschen leid, für heute.

Sonntag, 23. April 2017

Eine Chronik (36)


Zum dritten Mal im Bunker, erneut auf Zimmer 7. Doch diesmal ohne Bettnachbar. Alles andere wie gehabt. Nach Anmeldung im 1. OG, der Unterschrift auf diversen Einverständniserklärungen, dem Aufladen der Telefonkarte und dem Ausfüllen der Essenswunschliste packe ich mein Köfferchen aus, verteile die mitgebrachten Bücher (Novellen, die eigentlich kurze Erzählungen sind, von László Darvasi sowie das „Bauchspeicheldrüsentagebuch“ von Péter Esterházy – zufällig zwei Ungarn? Nein, in der ungarischen Literatur ist oft von Untergang und Tod die Rede …), Zeitungen, Notizhefte auf dem Nacht- und dem Esstisch.

Alles muss ruckzuck gehen. Schon kommt Schwester Gabi mit dem Blutdruckmessapparat – ein praktisches Ding auf Rädern.

143-89-92.

Nächste Patienteninformation durchlesen und unterschreiben, rasch ein paar Handyfotos schießen, weil das Sonnenlicht so froh tänzelnde Schatten auf den grellgrünen PVC-Fußboden zaubert. Auch Frau Dr. K. soll bald kommen, für ein Aufklärungsgespräch und um die üblichen Zugänge zu legen.

Warte lesend, blätternd in alten FAZ-Feuilletons, die der Vater von S. treu und zuverlässig für mich sammelt. Gleich mal auf einen schönen Satz der weitgereisten Schriftstellerin Angelika Overath gestoßen: „Wem der Tod nah ist, der wird leicht lebensmutig.“

10:20 Uhr: Frau Dr. K., Fachärztin für Radiologie, die manchmal etwas ungeduldig erscheint, hat sich Zeit gelassen und die Vene für den Zugang in der rechten Ellbogenbeuge gleich gefunden. Sitze ihr in bequemer Flanellhose und in Hotelschlappen gegenüber, was mir ein bisschen deplatziert vorkommt.

10:50: Dr. H., der leitende Oberarzt, war hier, mit der besten Nachricht seit Monaten. Die Resultate der jüngsten Untersuchungen seien sehr positiv. „Die Bilder zeigen, dass alles sehr stabil ist, keine neuen Metastasen sich gebildet haben, also genau das, was wir uns erhofft hatten.“

Uff, mit einer solchen Neuigkeit lassen sich die kommenden Stunden im Bunker doch schon viel freudiger angehen. Die Radiopeptidtherapie schlägt demnach an und kann bedenkenlos weitergeführt werden.

Daraufhin gönne ich mir eine der mitgebrachten Mandarinen und proste mir mit einem Plastikbecher Mineralwasser selbst zu – nach dem Motto auf dem Etikett: „Zum Essen, zum Wohle, zum Leben“.

Montag, 17. April 2017

Eine Chronik (35)

War in der Oper, las in der Sonne, lag am Strand, habe mich von Kamelen anhauchen lassen, neues Handy bekommen und wieder mit Zeichnen und Malen angefangen, nach langer Unterbrechung. War aber auch wieder einen Tag lang im zweiten Untergeschoss der Klinik, zwecks Kontrolle der Nierenfunktion und erneuter PET-CT-Untersuchung.

Um neun Uhr vormittags sind die Sitzgelegenheiten im Flur 28 der nuklearmedizinischen Abteilung schon gut besetzt. Auffällig viele junge Leute, bei deren Anblick einem das Herz besonders schwer wird, angesichts ihrer blassen, hilfesuchenden Augen, ihrer Ratlosigkeit.

Kurz nach neun werden Zugänge gelegt, rechts und links. Es bedarf, wie so oft, mehrerer Versuche, bevor eine passende Ader gefunden ist und das Blut durch die Nadel in den Behälter rinnt.

Soll viel trinken. Bevor in den nächsten sechs bis sieben Stunden wieder allerlei Szintigrafien und Scans durchgeführt werden. Habe, wie immer, reichlich Lese- und Schreibstoff eingepackt, vor allem das gelbe Heft für die Notizen. Und ein paar Bonbons. Zudem ist der Bart komplett abrasiert, damit es im Gesicht so wenig wie möglich juckt, wenn ich in den diversen Röhren hin und her geschoben werde, mich dabei unter keinen Umständen bewegen und folglich auch nicht mal so nebenbei am Kinn oder hinter den Ohren kratzen darf.

Nächste Blutabnahme in einer Stunde. Übernächste in zwei Stunden. Und so weiter bis zur vierten. Irgendwann wird ein Kontrastmittel gespritzt. Das muss sich im ganzen Körper verteilen.

Zwischen den einzelnen Terminen blättere ich in den alten Notizen im gelben Heft. Dort ist mehrfach von Knochenschmerzen die Rede. Seit Wochen habe ich nichts mehr dergleichen verspürt.

Als auch ich endlich durch bin, sind alle anderen Patienten schon gegangen. Der Flur ist leer. Nur in einzelnen Behandlungszimmern piepsen noch die Geräte. Um 16 Uhr will das Personal Feierabend machen, wie mir heute früh eine Angestellte verriet.

Versuche, S. telefonisch zu erreichen. Sie kann mich jetzt abholen. Doch im Bunker gibt es kein Netz, keinen Empfang. Gehe nach draußen. Auch hier bleibt das – funkelnagelneue – Handy stumm. Das hat gerade noch gefehlt. Kaufe mir beim fahrenden Händler, der sich strategisch klug genau vor den Hauptein- und -ausgang der Klinik platziert hat, ein Eis: Schokolade und Himbeere. Kaum habe ich dreimal daran geleckt, fährt S. vor. Erleichtert, dass es mir offenbar so gut geht und in den letzten Stunden so gut ergangen ist, dass ich Lust auf Süßes verspürt habe. Nur kleckern sollte ich nicht, auf dem Beifahrersitz.

Dienstag, 14. März 2017

Eine Chronik (34)


„Unser Sohn ist drei Jahre alt. Wir gingen mit ihm in ein Kunstmuseum, wo wir durch die Säle spazierten und auf den Bildern der großen Meister Hunde, Katzen, Vögel und Pferde suchten. Auf einem Bild war die schwangere Jungfrau Maria dargestellt. Unser Sohn fragte, warum sie einen so großen Bauch habe. Ich sagte, sie habe ein kleines Kind darin, das bald geboren werde. Wir setzten unseren Rundgang fort. Ein paar Säle weiter lief unser Sohn wieder zurück – um nachzusehen, ob das Kind schon geboren war.“
Diese Passage hätte ich gerne selber geschrieben. Doch ich habe sie nur gelesen. In einem Zeitungsbeitrag des russischen, seit 1995 in der Schweiz lebenden Schriftstellers Michail Schischkin über die Freiheit des Wortes und der Menschen. Überdies haben wir gar keine Kinder, über die ich schreiben könnte. Und auch keinerlei Erfahrung mit sowjetischen Panzern, dem KGB und Straflagern, in denen Männer, die vor dem Kreml Mahnwachen abhielten, um gegen den Ukraine-Krieg zu protestieren, systematisch gefoltert werden.

Stattdessen – stattdessen? – habe ich seit Anfang dieses Jahres wieder ein paar Gedichte geschrieben. Über chinesischen Kohl beispielsweise, über Souvenirs aus Marokko und über das Eden Palast in Aachen. Ein anderes trägt den Titel „Winterliches Gedicht“ und geht so: Dieses Gedicht / braucht mich nicht. / Ihm genügen / ein paar Schaufeln Schnee, / eine prächtige Schicht Eis, / ein dick vermummter Mann, / der den festen Boden / unter seinen Stiefeln verliert. / Einen Wimpernschlag lang / liegt er waagerecht in der Luft / und spuckt am Ende, hart aufgekommen, / sein Herz aus. // Ich hingegen lebe noch, / wenn auch fröstelnd und / mit gefrorenem Bart. // Hier und jetzt aber / kann gut und gern auf mich / verzichtet werden.