Freitag, 16. Juni 2017

Eine Chronik (44)

Gestern: Frühstück im Grünen. Ab und zu, mit dem einen oder anderen Windstoß, weht ein süßliches Duftwölkchen heran. Komme erst durch den Hinweis von S. darauf, dass Parfüms ja – angeblich – aus Veilchen, Rosen und anderen Blümchen gemacht sind und sich keineswegs hinter einer der Hecken, unter einem der Sträucher eine Dame versteckt, die zu viel des Riechwässerchens aufgetragen hat – wo kommen nur plötzlich all diese Verniedlichungen her?

Bis zum Abend ist der Wohlgeruch vergangen. Stattdessen erschrickt uns der Anblick der erst vor zwei Tagen gekauften Lebensmittel. Die Basilikumstängel sind vor lauter Mattigkeit umgeknickt; die ersten Champignons setzen Schimmel an; die Rosen lassen die welken Köpfe hängen; die Ananas ist überreif und angefault. Dann plötzlich kann man das aufziehende Gewitter riechen, den Regen, der bald niederprasseln und Erde und Gras zum Dampfen bringen wird.
Während draußen die Sintflut naht, lese ich über die Würfelqualle, eines der für Menschen tödlichsten Tiere überhaupt. Wenn sie aus ihren mehr als einen Meter langen Tentakeln genügend Gift injiziert, kann sie einen Menschen in weniger als zwei Minuten töten. Bislang wurden Würfelquallen hauptsächlich im fernen Australien gesichtet, neuerdings lassen sie sich auch in Thailand, der Karibik, Indien und Südafrika und sogar an der walisischen Küste blicken. Da muss ich zum Glück nicht (mehr) hin.
Heute: Training in der Muckibude, wie ziemlich regelmäßig in letzter Zeit. Bei erhöhter Außentemperatur sind alle Fenster geöffnet, trotzdem schwebt ein etwas strenger Duft durch den Raum. Doch zur Mühe gehört das Schwitzen dazu. Zumindest während des Radelns bleibt, trotz bässelastiger Musikbeschallung, Zeit zum Lesen, na ja, zum Durchblättern diverser Illustrierten. Auch in einem dieser Blätter ist von tödlichen Naturgefahren die Rede, aber bloß im Zusammenhang mit der zweiten Staffel der Serie „Wayward Pines“, die man anscheinend gesehen haben muss.

Donnerstag, 15. Juni 2017

Eine Chronik (43)


Tut mir leid – nein, nicht wirklich –, aber diesmal muss der blinde Passagier zuhause bleiben. Auf einem Segelschiff sind ungebetene Gäste nicht geduldet, selbst wenn der Kutter vielsagend Nirwana heißt. Sämtliche Kajüten sind belegt, Sessel gibt es sowieso keine, auf den Holzbänken im Gemeinschaftsraum ist kein Platz für überzählige Esser und Trinker, denn an den langen Tischen der Zeit, wie Paul Celan dichtete, „zechen die Krüge Gottes“ und sonst niemand.

27 Mann hoch, darunter auch etliche Damen, lassen sich kommod übers IJsselmeer schaukeln, mal sanft, mal heftiger. Doch so ganz ohne eigenes Zutun geht das nicht. Ab und an müssen Klüver, Fock, Besan und Großsegel gesetzt und auch wieder eingeholt werden. An dicken Seilen ist zu ziehen, schwere Stoffbahnen müssen aus- und sorgfältig wieder eingerollt werden, damit keine „schwangeren Elefanten“ entstehen. Und auch um die Verpflegung der Teilnehmer sowie der Crew muss sich gekümmert werden, wenn kein Smutje an Bord, der nächste Caterer seemeilenweit entfernt ist. Nicht zu vergessen die Unterhaltung an sowie unter Deck, zu der jeder Gast sein Bestes beitragen muss, und sei es, dass er ab und zu ein Liedchen anstimmt oder beiläufig ein paar Grimassen schneidet.

Auf mehr oder weniger hoher See, selbst beim Trockenfallen auf einer Sandbank im Wattenmeer werden die Wünsche bescheidener, die Erwartungen geringer. Hauptsache, die Kleidung wärmt, der Magen ist gefüllt, die Sonnencreme schützt und die Unterwäsche bleibt trocken. Nicht einmal die diversen Pillchen und Tröpfchen in meinem Gepäck kommen zum Einsatz. Nichts meldet sich, kein Druck auf der Brust, kein Ziehen im Rücken, kein Zwicken im Magen. Für Stunden kommt kein noch so beiläufiger Gedanke an den Daheimgelassenen auf. Alles konzentriert sich, wie ein immer enger werdender Kreis, der irgendwann in der Mitte zu einem kaum noch sichtbaren Punkt zusammenschrumpft, auf die Nirwana, ihre momentane Besatzung, die Kommandos der Skipperin und der Matrosin, das erstaunliche Verhalten von Lobke, dem Bordhund.

Am Ende legt der Zweimastklipper an drei Tagen 70 Seemeilen zurück, etwa 130 km, trotz anfänglicher Flaute und unberechenbaren Windwetters zwischendurch. Nicht schlecht für maritime Dilettanten wie uns, denen der Tod in diesen Tagen nur durch Ertrinken möglich scheint!      

Nach der Rückkehr aus den entspannten und entspannenden Niederlanden lese ich in Tomas Espedals „Biografie, Tagebuch, Briefe“: „Es ist nicht schwer, über den Tod zu reden. Wir reden unablässig über den Tod. Wir reden über den Garten und den Nachbarn, der Tod ist da. Wir reden über unsere Eltern und Kinder, der Tod ist da, und wir können nicht anders, wir vergessen und reden über all das Gute, das gewesen ist, und der Tod war schon damals da, und egal, worüber wir reden, der Tod ist in jedem einzelnen Wort und in jedem Atemzug und in dem kleinsten Bestandteil von dem, was wir sind …“

Donnerstag, 1. Juni 2017

Eine Chronik (42)

Die ereignisreichen Tage in Luxemburg sind vorbei: Batty Weber-Preis-Bekanntgabe, Lesung mit David Wagner in Mersch, Autokontrolle in Esch, Besuche bei Freunden, Zeit für die Mutter …
Nun wieder Donostia: vorzeitiger Sommer, Stunden am Strand, Sonnencremedüfte, Flanieren am Meeresufer, wo die Wellen kommen und gleich wieder Richtung Ebbe zurückweichen, im Rhythmus eines gesunden, sanft atmenden Herzens. Gleichzeitig die nackten Fußsohlen auf dem festen, sandigen Untergrund spüren – angenehmere Momente gibt es selten (auch wenn die Wolken sich unerwartet zu einem fiesen Trump-Portrait hoch über dem Atlantik zusammenballen).
Zudem noch die Zeitungslektüre – Fußballberichterstattung, Wettervorhersagen, lokale Geschichtchen, internationale Neuigkeiten, Leserbriefe – … ein Genuss. Und Anlass zu eigenen Notizen. Sowie die täglichen Kontakte zu den Einheimischen: der Zeitungsverkäufer, der jeden Morgen eine pertinente Bemerkung zum Tagesgeschehen parat hat; die Fischhändlerin mit den neuen Zähnen und dem Ehemann, der gerne kernige Sprüche über seine Frau zum Besten gibt, die Kolumbianerin, die Zuckerwaren und Mineralwasser verkauft und sich nett bedankt für meinen Dank in gesiezter Form (die gnadenlosen Duzer gewinnen in Spanien immer mehr Oberwasser), all die Kellner und Bäckereidamen, die Strandlieger und Rumläufer, die Obstverkäuferinnen und Strandputzmänner – eine andere Welt, ein anderes Leben fast, locker überschrittene Grenzen, wieder und wieder.
Die letzten Tage verbringen wir mit B. und R., den liebenswürdigen Freunden aus dem Eifeldorf. Schon erstaunlich, wie schnell und locker die beiden mit den Donostiarras zurechtkommen, ohne ein Wort Spanisch zu sprechen und auch ansonsten nicht viel Fremdsprachliches zu beherrschen. Von Baskisch ganz zu schweigen. Wir reden dann halt mit dem Zeigefinger, erklärt R. eines Morgens mit einem herzhaft angebissenen Schinkenbrötchen in der Hand und einem kleinen schwarzen Kaffee vor sich auf dem Terrassentischchen. Und es funktioniert.