Freitag, 14. Oktober 2016

Eine Chronik (18)

Der Tag, an dem ich so weit weg war wie nie zuvor. Weg von zuhause. Weg von allem und allen Bekannten. Von dort, wo in diesem Moment niemand wusste, wo ich war, was ich so weit weg tat, in der Ferne zu tun, zu suchen hatte. Nämlich nichts. Ich wollte einfach nur am Ufer des Pazifik stehen, einmal in westliche Richtung schauen, links um die halbe Erdkugel herum, bis nach Hause.   
Bald dreißig Jahre her. Dass ich irgendwo am Long Beach über das Meer schaute. Oder war das am Ufer der Bucht von Santa Monica gewesen? Der Blick über den grauen, vernebelten Pazifischen Ozean.
Innerhalb von dreißig Jahren verschwimmt so manche Erinnerung, verflüssigt sich wie Aquarellfarben im Regen. Aber auf einer Wiese hoch über dem Mississippi saß ich tatsächlich einmal, wenn auch zehn Jahre später, und schaute auf den Fluss hinunter, der sich breit und schwer und träge dahinwälzte.
Einige Male schon gab es diese Situationen, in denen es mir nichts ausgemacht hätte, im nächsten Moment zu sterben (vermutlich rede ich mir das im Nachhinein nur ein). Aber nicht in den USA. In den USA zu sterben, wäre mir schäbig vorgekommen, überflüssig, unter meiner Würde, von der ich nicht weiß, was sie eigentlich bedeutet. Meine Würde?
Spontane Entscheidung, vor knapp einem Monat. Ohne die vorherige Zustimmung der Ärztin einzuholen. An jenem Morgen beschloss ich, seit Tagen beschwerdefrei, keine Schmerztabletten mehr einzunehmen. Und auch auf die magenschonenden Pillen zu verzichten. Abzuwarten, was passieren würde. Nichts ist seither passiert. Die stechenden Schmerzen sind nicht wiedergekommen. Nur manchmal ein leichter Druck im Rücken, ein bescheidenes Ziehen unter dem linken Arm. Mehr nicht. So dass ich derzeit – außer der monatlichen Spritze natürlich – komplett auf Medikamente verzichte. 
Geht es mir zu gut?

Dienstag, 11. Oktober 2016

Eine Chronik (17)

Siebte Spritze. Im Therapiezimmer wimmelt es. Junge und Alte, Männer und Frauen. Manch Blasser mit dunklen Augenringen, ab und zu eine Rotwangige, die zufrieden lächelt. Einige strotzen sogar vor lauter Daseinsfreude. Ansonsten sowohl schick als auch sportlich bis salopp Gekleidete. Vornehme Damen in heller Bluse neben tätowierten Typen im Muskelshirt. Solche mit Schläuchen in der Nase und rollenden Sauerstoffflaschen vor den Füßen; solche mit Tüchern um den kahlen Kopf und Kompressionsstrümpfen an den Beinen.
Leben!
Inzwischen weiß ich: Je nach Tag und Uhrzeit herrscht mal mehr, mal weniger Betrieb in der onkologischen Praxis. Am hektischsten geht es vormittags zu, am entspanntesten am späteren Nachmittag. Aber nicht immer hat man die Wahl.
Diesmal zum Beispiel. Nach der Spritze steht eine längere Autofahrt ins Ausland an. Und vor der Spritze eine Blutentnahme. Von der ich erst erfahre, als die junge Arzthelferin mit ihrem Wägelchen vorfährt und den Abbinderiemen um meinen Oberarm festzurrt. Ach so!, entfährt es mir. Sie meint nur, alle paar Monate sei es nötig, die Blutwerte zu kontrollieren. Die Frau Doktor wolle das so. Na gut, ich halte still. Zumal die junge Frau ihr Handwerk versteht.
Achtung, jetzt wird’s kalt!, lässt sie mich wissen, bevor sie eine Flüssigkeit in die Ellenbeuge sprayt: Und nun piekst es.
In der Tat, ein paar Mal mit der Zeigefingerkuppe klopfen, dann piekst es. Sofort läuft der rote Saft durch die Kanüle ins Plastikröhrchen. Respekt, Vene getroffen, gleich beim ersten Versuch.
Das klappt nicht immer. Ihre Adern verstecken sich aber gut, unkte einmal eine ärztliche Mitarbeiterin, die es nach dem dritten vergeblichen Versuch dann auch aufgab, zunächst ihre Kollegin hinzu zog und am Ende den Chef höchstpersönlich ran ließ.
Diesmal also funktioniert es gleich beim ersten Mal. Kein einziger Schweißtropfen zeigt sich, weder bei der Dame noch bei mir. Also kann ich getrost weiter meine Spritze mit den Fingern aufwärmen. 5, 20, 25 Minuten lang. Erst dann wird eines der Behandlungszimmer frei und die Blonde, die mir schon mehrfach in die Hüfte gestochen hat, kann endlich zu Werk gehen. Erneutes Kühlspray, kurz abwischen, einmal tief Luft holen, rein in den Speck. Langsam drücken, damit das Serum sich so langsam, so wirksam wie möglich im Körper verteilen kann.
Sie wissen ja: Nicht kratzen, nicht reiben, nicht rumdrücken!
Klar, kenne mich inzwischen doch damit aus. Auch wenn’s manchmal verführerisch juckt. Finger weg! Hemd in die Hose. Nächster Termin in vier Wochen. Am liebsten spät nachmittags. Danke und tschüss.          

Sonntag, 9. Oktober 2016

Eine Chronik (16)

Neulich abends im Bus vom Flughafen Loiu bei Bilbao nach San Sebastián. Es ist bereits dunkel, aber im Inneren des Gefährts noch stickig und warm. Düstere Bilder füllen mir den Kopf. Seit ein paar Tagen durchziehen dumpfe Stiche meinen Brustkorb, den Rücken, die Flanken. Sie scheinen zu wandern, geballt, nicht entzifferbaren Wegweisern folgend.
Zwei Tage zuvor gab es die sechste Spritze. Komplikationslos wie immer. Und auch ein paar finanzielle Dinge in Zusammenhang mit der kostspieligen Therapie scheinen endlich auf dem richtigen Weg zu sein.
Eigentlich müsste ich zuversichtlich sein. Das werde ich dann auch, allmählich. Nur noch wenige Kilometer bis Donostia. Der Regen lässt nach. Vom Busbahnhof bis nach Gros in die Wohnung sind es knapp 20 Minuten zu Fuß. Der Promenadenweg am Urumea-Fluss ist bereits völlig getrocknet; die ersten Blumen in den elegant geschwungenen Kübeln auf dem Eisengeländer sind verdorrt. Hinter der Insel Santa Clara geht gerade die Sonne unter, wortwörtlich oder buchstäblich – wie sagt man? Unaufhaltsam versinkt sie im Meer.
Einen Tag zuvor war noch die Tagung zum Thema „Literatur und Gesundheit“ gewesen. Eigentlich hatte der Moderator vorgesehen, mich als Verfasser des Buches „Der Suppenfisch“ und nicht als Krebspatienten vorzustellen und mich in erster Linie zu dem schmalen Roman über das Leben und Sterben meines Vaters zu befragen. Allenfalls am Rande oder ganz zum Schluss der Veranstaltung könnte man auch auf die Krebsdiagnose zu sprechen kommen. Doch was erwähnt er gleich in seinem allerersten Satz? Meinen Tumor-Blog. Zum Glück reitet er in der Folge nicht ständig darauf herum, ich hätte fürchterliche Rückenschmerzen bekommen, selbst im Sitzen.
Am nächsten Vormittag: Wellen, Brandung, Sonne, Strand, Sand. Gut, dass wir uns unlängst einen Strandstuhl geleistet haben, einen ganz niedrigen, vielfach verstellbar, in dem man bequem liegen, aber vor allem vernünftig sitzen und lesen kann. Zeitung sogar, wenn der Wind nicht zu wild über Zurriola fegt.
In der im Fluggepäck mitgebrachten Süddeutschen steht ein Interview mit Karl Ove Knausgård, in dem er von vier neuen Büchern spricht, die er soeben beendet hat. Ihr Inhalt, so sagt er, fange dort neu an, wo die klassische Erzählung endet. Kurze Texte über den Himmel, eine Toilette, Babys, Kotze; Reflexionen über die Liebe, Autos, das Dazwischen, Orte und Momente, die man nur deshalb nicht schätzt, weil man sie übersieht.  
So kommt man auf Ideen.

Wie wär’s mit kleinen Abhandlungen über Küchenschränke und Wanderschuhe? Mit beiläufigen Geschichten über Teigrollen, Brotmesser oder – was liegt näher im Moment? – Badehosen, Sonnenschirme, Bikinis und Strandstühle? Als „Bagatellen“ könnte man diese Textchen bezeichnen. Als Kleinigkeiten vielleicht, Liebhabereien.