Sonntag, 25. März 2018

Eine Chronik (71)


Heute kein Frühstück. Letzter Tropfen Flüssigkeit um Mitternacht. Muss nüchtern sein, in allen Hinsichten. Kurz nach acht kommt Pfleger S., ich soll mich waschen, Zähne putzen, mich bereithalten, ja, im Schlafanzug, das sei perfekt. Nein, er weiß nicht, wann die Reihe an mir sein wird, aber wir haben, behauptet er, derzeit eine Menge Arbeit.
Tue, wie mir befohlen. Setze mich, im Pyjama, auf das neue, vollelektrische Bett und … warte. Warte, lese Zeitung und … warte. Warte, mache ein paar Notizen, warte. Warte, starre auf die Mineralwasserflasche und … warte. Starre auf den Zugang auf meinem rechten Handrücken und … warte. Irgendwann kommt die Putzfrau. Sie sind derzeit der einzige Patient auf der Station, verrät sie, was mich wundert, nach allem, was Pfleger S. mich am Morgen wissen ließ. Ich bekomme hier auch oft komische Antworten, sagt die Putzfrau, kopfschüttelnd. Nach dem Staubwischen und feuchten Aufnehmen geht sie wieder.
Ich warte weiter. Stoße bei der Lektüre auf den Begriff Tivolikugel. Frage mich, was eine Tivolikugel wohl sein mag, bin aber zu träge, um mich mittels Smartphone auf die Suche zu machen. Stattdessen: Warten! Kurz vor elf bin ich überzeugt, dass kurz nach elf etwas passieren wird. Allmählich wird mir kalt, in meinem dünnen Schlafanzug. Ziehe mir die Daunenjacke über und … warte. Bald sind sämtliche Zeitungen ausgelesen. Wegen des Katheters in und des Verbands an der rechten Hand fällt das Schreibstifthalten mir schwer.
Um zwölf passiert immer noch nichts. Stille auf dem Flur, auch von draußen, wo nur ein paar Tauben fröstelnd in den noch kahlen Bäumen hocken und gurren, gurren, gurren. Und das leise Surren des Kühlschranks, in dem ein paar Flaschen Saft, Obst, ein Stück Marzipan verstaut sind. Aber ich muss ja nüchtern bleiben.
Kurz nach 13 Uhr kommen zwei Krankenschwestern, die ich nie zuvor gesehen haben. Ich soll mich in mein Bett legen, mir die Decke bis unters Kinn ziehen, es sei kalt auf den Fluren, zugig. Sie bringen mich zur Lungenspiegelung. Frau Dr. O. erwartet mich bereits und begrüßt mich per Handschlag. Es ist ungewohnt, jemandem beim ersten Mal im Liegen gegenüberzu… na ja … treten. Gleich verabreichen wir Ihnen eine Ladung Propofol, und Sekunden später träumen Sie von Sonne, Meer und leckeren Cocktails. Sediert werden, denke ich und merke gerade noch, wie eine Spritze mit sahnefarbener Flüssigkeit von oben in den Katheter in meiner rechten Hand geschoben wird. Ein letzter Blick auf die Wanduhr. Es ist 13:20. Beim nächsten Blick an der Mauer hoch ist es 13:45, Frau Dr. O. berührt sanft meine Wange und fragt, ob ich bereits wieder da bin. Dann zeigt sie mir die Fotos, die sie soeben in meinem Inneren gemacht hat. Nicht erschrecken, empfiehlt sie, von der roten Farbe auf den Bildern müssen Sie sich achtzig Prozent wegdenken, dann wissen Sie ungefähr, wie es da drinnen aussieht.
Apropos vollelektrisches Bett bzw. Stuhl: Für ihre letalen Giftspritzen verwenden die amerikanischen Behörden bei der Exekution zum Tode verurteilter Häftlinge ebenfalls Propofol, was der deutsche Hersteller des Produkts mit Handelsbeschränkungen in den USA zu verhindern versucht. Bisher nur mit bescheidenem Erfolg.

Samstag, 24. März 2018

Eine Chronik (70)


Ausnahmsweise wieder einmal im Klinikum in W., wo vor ziemlich exakt zwei Jahren und einer Woche alles begann. Diesmal zwecks Bronchoskopie. Aufnahme am Tag zuvor, gleich anschließend EKG, Blutgasanalyse und Lungenfunktionstest, danach auf die Station, Anmeldung beim Case-Management und Zimmerzuweisung.
Pfleger S. kommt mit einem noch in Plastik verpackten Bett hereingerollt, für Sie diesmal ein komplett neues, vollelektrisches Bett, behauptet er. Ich will wissen, ob das mit den vollelektrischen Stühlen zu vergleichen sei, die in den USA bis heute in Gebrauch sind. Haha! Obendrein der allerneueste Matratzenstandard, sagt Pfleger S., passt sich Ihrem Körper genau an, in jeder Lage. Ich teste sie mit sanftem Fingerdruck und bin einverstanden.
Statt Mittagessen wird mir ein Fläschchen Multivitaminsaft serviert, dann steht auch schon Schwester I. in der Tür. Soll mich mal kurz auf mein neues Bett setzen. Eine Minute lang schaut Schwester I. mich an und verkündet: Meine Atemfrequenz liegt bei 19, ich bin Brustatmer, wie die meisten Männer, kein Bauchatmer, wie die weibliche Mehrheit.
Was man doch immer noch an Neuem erfährt! Später etwa, beim Zeitunglesen, nachdem alle Voruntersuchungen abgeschlossen und die Mitarbeiter der Station wieder gegangen sind, dass der japanische Autobauer Nissan jüngst selbstfahrende und selbstparkende Pantoffeln entwickelt hat. Echt. Zum Glück fahren die Hausschuhe nur in Schrittgeschwindigkeit, so dass schwerwiegende Unfälle ausgeschlossen werden können.
Kurz nach 17 Uhr wird das Abendessen serviert: zwei Schreiben Körnerbrot, Hähnchen-Pastete mit Putenfleisch (!), Schmelzkäse in Staniolhülle, Marmelade in Plastikschälchen, zwei weitere Plastiktöpfchen mit Halbfett-Margarine, ein Plastikschüsselchen mit Rote-Rüben-Würfelchen. Lasse einstweilen alles stehen, kalt kann es sowieso nicht werden. Ganz davon abgesehen, dass mehr Verpackung als Inhalt aufgetischt wird.
Entdecke im Bad, über dem Waschbecken, einen mit Tesa befestigten Zettel mit der handschriftlichen Notiz Kein Trinkwasser! Seltsam, ein Krankenhaus, in dem man sich von Wasserhähnen besser fernhält.  


Dienstag, 13. März 2018

Eine Chronik (69)


Gestern, auch verführt von den nahezu ausnahmslos vor Begeisterung übersprudelnden Kritiken, in einem der dümmlichsten, unsäglichsten, verlogensten, geschwätzigsten, unsinnlichsten, unästhetischsten, unerotischsten, kitschigsten, lächerlichsten, hölzernsten, abgeschmacktesten, lust- und leidenschaftslosesten, am miesesten geschauspielerten, kurzum: der schlechtesten und folglich am meisten überschätzten Filme der letzten Jahre gewesen: „Call Me By Your Name“. Danach in einem Restaurant, wo sich die Qualität des Essens der des Films geradezu perfekt anpasste.
Im Vergleich zu den gestrigen Erlebnissen war der vorgestrige Besuch in der Autowaschstraße und die Beseitigung der Winterspuren ein künstlerischer Hochgenuss – aber nur, weil wir beim Einseifen, Abspritzen und Trocknen im Wagen sitzengeblieben waren und uns von der gratis dazugebotenen Lichtshow faszinieren lassen hatten.


Montag, 12. März 2018

Eine Chronik (68)


Ein paar Wochen Ruhe. Außer der Monatsspritze, alle 28 Tage. Und demnächst einer weiteren Bronchoskopie. Schon seltsam, wie alle diese Untersuchungen mit der Zeit an Schrecken verlieren, zumindest einen Teil davon. Und viele andere Dinge sich verlagern, die einen an Wert zunehmen, die andern an Gewicht abnehmen. Nur ständig, wirklich unablässig, dieser riesige Schatten im Hintergrund, über einem, in einem. Ein paar Wochen Pause, auch mit dem Blog. Durchatmen. Pläne schmieden. Kleinigkeiten eigentlich, Banales, Normales.
Nach der Februar-Spritze zehn Tage Donostia, leider im Regen. Dafür mundeten nach langer Zeit mal wieder ein paar Gläser Weißwein, sogar einige Zurritos, am Tresen stehend, mit dreadgelockten Txurris zu Füßen und leckeren Rationen auf den Hochtischchen in der umfänglich renovierten Bar Astelena. Wie hieß die Serviererin mit dem Pferdegang nochmal: Salomé? In der christlichen Mythologie die Inkarnation weiblicher Grausamkeit schlechthin, gleichwohl die Verkörperung idealer Schönheit und purer Erotik.
(Aber darf man solche Ausdrücke heute, im Jahre 2018, in Zeiten des neuen Puritanismus und Tugendfurors, überhaupt noch benutzen, ohne sofort als Sexmonster abgekanzelt zu werden?)
Nun liegt endlich kein Schnee mehr. Temperaturen um zehn Grad. Doch nirgendwo ein kühnes Blättchen, das eine grüne Spitze hervorzustrecken wagt. Doch, sagt S., Schneeglöckchen, und die ersten Krokusse.
(Oder soll man bald nur noch über vermeintlich reine, unschuldige Natur sprechen und schreiben? Schon seltsam, wie viel Angst die Jungen von heute vor nackter Haut, Nähe und – pfui! – direktem Körperkontakt, sogar bloß vor deren Darstellung in Texten und auf Bildern zu haben scheinen. Von Blut, Rotz, Sperma und anderen Körperausscheidungen ganz zu schweigen.)
P.S.: Wie meinte S. dieser Tage: Sollte sich dieses oder jenes Museum dazu entschließen, demnächst Werke von angeblich pervers-sexistischen Malern wie Gauguin, Schiele, Picasso oder Balthus abzuhängen und für immer in seinen dunklen Lagern verschwinden zu lassen … – wir wären gerne bereit, dem einen oder anderen Bild an unseren noch jungfräulichen Wänden lebenslanges Exil zu gewähren! Also bitte melden …