Freitag, 17. November 2017

Eine Chronik (60)


10:15. Bei Wasser und Brot … ähm, nein, bei Latte Macchiato und Schokocroissant in der Cafeteria. Es bediente mich, wie auf dem Kassenzettel steht, „Theke 2“ – hellbraun gelockt, äußerst freundlich und fast schon unanständig gut gelaunt. Während ich im Kaffeeglas rühre, fällt mir der Traum der vorigen Nacht ein: Die Begegnung mit einem alten Bekannten, der mir plötzlich viel kleiner vorkommt als früher. Als er davongeht, erkenne ich, dass sein linkes Bein unterhalb des Knies amputiert ist und anstelle seines rechten Beins ein kurzer, hölzerner Stock aus seinem Unterleib ragt, wie oft bei Kapitänen in alten Piratenfilmen.

10:35. Vom Gebäck sind nur Krümel übrig, das Glas ist leer. Blicke mich um: Den größten Raum im Eingangsbereich der Klinik nimmt eine Bankfiliale ein. Gleich daneben der Zeitungs-, Süßigkeiten- und Souvenirladen. Dort gibt es auch Fertiggerichte zu kaufen. Zum Glück muss ich mich erst nächste Woche wieder mit Spitalskost begnügen.

10:45. An der Eingangstür zur Abteilung Nuklearmedizin hängt ein Schild: „Aus Hygienegründen verzichten wir auf das Händeschütteln. Wir bitten um Ihr Verständnis.“ Nehme, etwas verfrüht, im Behandlungszimmer Platz, zum dritten Mal für heute. Blättere in dem mitgebrachten „Reportagen“-Band Nr. 34 vom Mai 2017. Die Albanerin streckt den Kopf herein und erkundigt sich nach meinem Befinden. Gut, sage ich.

11:00. Nächste Blutabnahme durch MTRA Heike W. Frage die Dame, was MTRA bedeutet: Medizinisch-technische Radiologie-Assistentin. Alles fließt wie geölt. Nehme erneut auf dem Warteflur Platz, lese weiter in dem Artikel über Sex, Lügen und YouTube.

11:55. Vierte Blutabnahme. Zunächst kommt der dunkelrote Saft nur getropft. Muss den Arm etwas tiefer hängen lassen. Wir sollten die Erdanziehungskraft nutzen, sagt die MTRA. Dann wickelt sie erneut den schützenden Verband um den Zugang. Bis in einer knappen Stunde, sagt sie. Bis dann, sage ich und gehe. Draußen steht die Imbissbude vom Fritten-Heini. Schaue mir kurz die Tafel mit seinen Angeboten an, lasse es dann aber lieber. Entscheide mich für drinnen – leider. Denn die groß beworbene Tomatencremesuppe schmeckt wie die Tomatensauce aus der kindheitsfernen Mirácoli-Packung, also irgendwie eklig. Zur besseren Verdauung hole ich mir im Laden nebenan einen Riegel weißer Schokolade mit zerbröselten Cornflakes. Ebenfalls keine Offenbarung. Ab 12:30 muss ich intensiv Wasser trinken, um die Nieren auf Trab zu bringen.

Wann die Kamera nach 13:00 frei sein wird, ist laut MTRA momentan nicht abzusehen. Es könne aber noch dauern – was immer das heißt. Gut, dass ich für die Lektüre eines der umfangreichen „Reportagen“-Artikel zwischen 40 und 50 Minuten brauche.

So vergeht die Zeit ziemlich schnell. Allmählich lichten sich die Wartebereiche. Einmal schlendert eine Frau weinend den Flur hinunter. Dann Geräusche von Stöckelschuhschritten, die um zwei Ecken verhallen.

Mein wartendes Gegenüber betrachtet minutenlang seine Fingernägel. Ab und zu keucht der dickleibige Mann, einmal knurrt er etwas, das sich wie „Bier“ anhört.

13:50. Werde in den Scan-Raum gebeten. Muss alles Metallische ablegen und mich mit halb heruntergelassener Hose auf die Pritsche begeben. Ab jetzt bitte nicht mehr bewegen, sagt der junge Mann, einer der zahlreichen Praktikanten, denen ich in den letzten Monaten hier begegnet bin. Die Pritsche ruckelt ein wenig. Von irgendwo ein dumpfes Geräusch. Stimmen aus dem Nebenraum. Einmal huscht Dr. T. vorbei. Wenn es gerade nicht irgendwo im Gesicht, auf der Brust, an Armen oder Beinen kribbelt und juckt, drohe ich einzunicken.

Die eigentliche Nierenszintigrafie dauert rund 45 Minuten, inkl. fünfter und sechster Blutentnahme. Dann darf ich gehen, sieben Stunden später. Rasch nach draußen, tief Luft holen. Warten auf S. Trotz Sonnenschein ist es kalt und feucht, fast schon usselig. Acht Minuten später fährt S. vor. Sie freut sich, dass es mir gut geht.   

Donnerstag, 16. November 2017

Eine Chronik (59)


Kurz nach acht Uhr auf dem Parkplatz des Klinikums. Neben dem Haupteingang steht ein Leichenwagen mit laufendem Motor, wartet. Der Fahrer starrt auf sein Handy. Der Sargraum ist leer.

Im zweiten Untergeschoss empfängt uns die ältere Krankenschwester mit dem krausen Schopf. Vor 14 Uhr werde die heutige Sitzung auf keinen Fall beendet sein, erklärt sie. Eine der beiden Kameras sei kaputt, deshalb würden die Untersuchungen diesmal etwas länger dauern. So weiß S. zumindest Bescheid und kann ihren Tag besser planen, bevor sie mich irgendwann am Nachmittag wieder abholen kommt. 

Eine Stunde später. Dr. T., die charmante albanische Assistenzärztin, stellt sich vor. Bisher haben wir uns ja noch nicht kennengelernt, stellt sie zur Begrüßung fest. Richtig, erwidere ich, aber wie war Ihr Name? Sie deutet auf das Ausweiskärtchen, das von der Brusttasche ihres weißen Kittels baumelt. Ich solle doch raten, wo sie herkomme. Osten?, mutmaße ich. Nein, nicht ganz, sagt sie. Die Buchstabenkombination S und H in ihrem Nachnamen irritiert mich. Mittelmeeranrainer?, taste ich mich vor. Ja, erwidert sie. Aber Ihr Name klingt weder italienisch noch spanisch oder französisch, sage ich. Also Albanien. Genau, sagt sie, übrigens völlig akzentfrei, alle Achtung! Aber wie kommen Sie nur darauf? Wegen des Hs hinter dem S, sage ich.

Dann zieht sie violette Gummihandschuhe an und versucht, mir zwei Zugänge zu legen: einen roten in den rechten Unterarm, einen blauen in den linken. Die üblichen Probleme bei der Suche nach aufnahmefähigen Adern. Am Ende klappt es in jedem Arm beim ersten Versuch. Respekt, sage ich, das bekommen nicht viele hin. Die Albanerin schmunzelt.

Zwischendurch klingelt dreimal ihr Handy. Sie klemmt es sich zwischen Schulter und Ohr und macht mit den Nadeln und Stöpseln und Pflastern einfach weiter. Einmal erklärt sie ihrem Anrufer: Ich bin grad bei der Niere.

Die Niere bin in diesem Fall ich, ein bisschen kümmerlich dasitzend, mit zwei hochgekrempelten Hemdsärmeln und einem dünnen Schal um den Hals. Dr. T. verabschiedet sich, bis später, und geht.

Erste Blutabnahme in einer Stunde. Setze mich in der Zwischenzeit ins Wartezimmer, wo heute für einmal sehr viel Betrieb herrscht. Patienten jeden Alters, wie gehabt, aus allen sozialen Schichten, sofern man das auf einen ersten, flüchtigen Blick erkennen kann. (Man kann!) Alle blicken mehr oder weniger trübselig drein. Einer zippelt an der Haut auf den Nagelbetten seiner Finger, einer wischt und tappt auf seinem Handy herum – dabei gibt es hier unten auf der Nuklearstation gar kein Netz, also spielt er vermutlich irgendein Menschenfresser- oder Massaker-Spiel –, niemand greift zu den ausliegenden Illustrierten oder liest eine Zeitung, in einem Buch. Selten fällt ein Wort.

Auch die bekannten Gesichter, die in weißen Kitteln herumlaufen, schweigen. Eine durchaus absurde Szenerie; man müsste eine Kamera aufstellen und über Stunden hinweg filmen, was auf den Fluren so alles passiert: Patienten, die kommen und wieder gehen; Personal, das von links nach rechts durchs Bild läuft und meist kurze Zeit später auch wieder von rechts nach links, einmal mit Mäppchen, einmal ohne, diverse Gestelle auf Rädern vor sich her schiebend, einen Papierstapel unter den Arm geklemmt, mit losen Zetteln in der Hand. Ein experimentelles Videoprojekt mit dem Titel „Nuclear Promenades“, ohne Mudam- oder Casino-Auftrag.

Zudem ist ein Teil des Flurs hinter einem Sichtschutz aus Plastikplanen verborgen, eine Art Baustelle auf einem der Gänge. Vorhin erwähnte jemand, dass ein alter Scanner durch einen neuen ersetzt würde.

Soeben schlich ein Mann in Zivil heran und schlüpfte hinter die undurchsichtige Wand wie hinter einen Theatervorhang. Später bewegte sich dort etwas, ein stummer Schatten hinter einem Schleier aus Milch.

9:45. Noch zehn Minuten, dann kurve ich um zwei Ecken, mache den linken Arm frei und lasse mir zum zweiten Mal Blut abzapfen. Manchmal wird in den Warteräumen aber auch so laut und ausdauernd geplappert, dass nicht an Lesen und schon gar nicht an Schreiben zu denken ist.

Noch fünf Minuten. Einer der Wartenden ist schlimm erkältet, hustet, schnüffelt und schnäuzt sich ohne Unterlass. Noch vier Minuten. Danach gehe ich nach oben, kurz an die frische kalte Luft und in der Cafeteria einen Kaffee trinken, ein Stück Gebäck essen. Hatte noch keinen Hunger, früh am Morgen.  

Sonntag, 12. November 2017

Eine Chronik (58)


Der neueste Befund nach dem jüngsten PET-CT kommt mit der Post. Er bestätigt, was der provisorische Ärztebericht nach dem letzten, dem vierten Radiopeptidtherapie-Zyklus schon angedeutet hatte: „Formell zeigt sich ein Stable Disease mit jedoch rückläufigen bzw. einzelnen sogar nicht mehr nachweisbaren Tracermehranreicherungen sowie ohne Nachweis einer neu aufgetretenen malignomtypischen Nuklidanreicherung. Des Weiteren gibt es einige vorbeschriebene Metastasen, die aktuell nahezu keine pathologische Traceranreicherung mehr aufweisen …“ Capito? Grund zu feiern?
In den letzten Wochen gab es jedenfalls kaum Anlass, dem ungebetenen Gast besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Hätte er, der alte Störenfried, auch gar nicht verdient gehabt. Stattdessen die Batty Weber-Sache in Mersch, diesbezügliche – und völlig unerwartete – Glückwünsche seitens des Vorstandes von Jeunesse Esch, meinem Club seit mehr als dreißig Jahren, kurze Erholung im nordspanischen Restsommer inkl. munter durchwachsene Ergebnisse von Real Sociedad, meinem baskischen Lieblingsverein seit nun auch schon bald zwanzig Saisons, ausgiebige Lektüre, ein spitzer Kommentar zu diesem und jenem … mitsamt ziemlich häufig ziemlich kryptischen Reaktionen, die nur eine tastende Schlussfolgerung zulassen: Sind wir, ja, wir alle, dabei, in die allgemeine Verblödung abzudriften, oder haben wir in unserer „hysterisch-bigott hypermoralisierten Gesellschaft, wo wir angeblich so viel toleranter sind und libertärer“ (Thea Dorn), diesen Zustand, ohne es zu merken, längst erreicht?
Wie auch immer, übermorgen steht die erneute Durchführung einer Nierenfunktionsbestimmung auf dem Programm. Tut nicht weh, dauert bloß fünf bis sechs Stunden, verlangt also Geduld und reichlich Lesestoff im Rucksack. Kurz danach beginnen die Walfer Bicherdeeg 2017 – eine willkommene Ablenkung, auch wenn mein Tumor unbedingt mitkommen, den ganzen Trubel nun schon zum zweiten Mal miterleben will. Na gut, wenn er sich zu benehmen weiß, dann ist das halt so.