10:15. Bei Wasser und Brot … ähm, nein, bei Latte
Macchiato und Schokocroissant in der Cafeteria. Es bediente mich, wie auf dem
Kassenzettel steht, „Theke 2“ – hellbraun gelockt, äußerst freundlich und fast
schon unanständig gut gelaunt. Während ich im Kaffeeglas rühre, fällt mir der
Traum der vorigen Nacht ein: Die Begegnung mit einem alten Bekannten, der mir
plötzlich viel kleiner vorkommt als früher. Als er davongeht, erkenne ich, dass
sein linkes Bein unterhalb des Knies amputiert ist und anstelle seines rechten
Beins ein kurzer, hölzerner Stock aus seinem Unterleib ragt, wie oft bei
Kapitänen in alten Piratenfilmen.
10:35. Vom Gebäck sind nur Krümel übrig, das Glas ist
leer. Blicke mich um: Den größten Raum im Eingangsbereich der Klinik nimmt eine
Bankfiliale ein. Gleich daneben der Zeitungs-, Süßigkeiten- und Souvenirladen.
Dort gibt es auch Fertiggerichte zu kaufen. Zum Glück muss ich mich erst
nächste Woche wieder mit Spitalskost begnügen.
10:45. An der Eingangstür zur Abteilung Nuklearmedizin
hängt ein Schild: „Aus Hygienegründen verzichten wir auf das Händeschütteln.
Wir bitten um Ihr Verständnis.“ Nehme, etwas verfrüht, im Behandlungszimmer
Platz, zum dritten Mal für heute. Blättere in dem mitgebrachten
„Reportagen“-Band Nr. 34 vom Mai 2017. Die Albanerin streckt den Kopf herein
und erkundigt sich nach meinem Befinden. Gut, sage ich.
11:00. Nächste Blutabnahme durch MTRA Heike W. Frage die
Dame, was MTRA bedeutet: Medizinisch-technische Radiologie-Assistentin. Alles
fließt wie geölt. Nehme erneut auf dem Warteflur Platz, lese weiter in dem Artikel
über Sex, Lügen und YouTube.
11:55. Vierte Blutabnahme. Zunächst kommt der dunkelrote
Saft nur getropft. Muss den Arm etwas tiefer hängen lassen. Wir sollten die
Erdanziehungskraft nutzen, sagt die MTRA. Dann wickelt sie erneut den
schützenden Verband um den Zugang. Bis in einer knappen Stunde, sagt sie. Bis
dann, sage ich und gehe. Draußen steht die Imbissbude vom Fritten-Heini. Schaue
mir kurz die Tafel mit seinen Angeboten an, lasse es dann aber lieber.
Entscheide mich für drinnen – leider. Denn die groß beworbene Tomatencremesuppe
schmeckt wie die Tomatensauce aus der kindheitsfernen Mirácoli-Packung, also
irgendwie eklig. Zur besseren Verdauung hole ich mir im Laden nebenan einen
Riegel weißer Schokolade mit zerbröselten Cornflakes. Ebenfalls keine
Offenbarung. Ab 12:30 muss ich intensiv Wasser trinken, um die Nieren auf Trab
zu bringen.
Wann die Kamera nach 13:00 frei sein wird, ist laut MTRA
momentan nicht abzusehen. Es könne aber noch dauern – was immer das heißt. Gut,
dass ich für die Lektüre eines der umfangreichen „Reportagen“-Artikel zwischen
40 und 50 Minuten brauche.
So vergeht die Zeit ziemlich schnell. Allmählich lichten
sich die Wartebereiche. Einmal schlendert eine Frau weinend den Flur hinunter.
Dann Geräusche von Stöckelschuhschritten, die um zwei Ecken verhallen.
Mein wartendes Gegenüber betrachtet minutenlang seine
Fingernägel. Ab und zu keucht der dickleibige Mann, einmal knurrt er etwas, das
sich wie „Bier“ anhört.
13:50. Werde in den Scan-Raum gebeten. Muss alles
Metallische ablegen und mich mit halb heruntergelassener Hose auf die Pritsche begeben.
Ab jetzt bitte nicht mehr bewegen, sagt der junge Mann, einer der zahlreichen
Praktikanten, denen ich in den letzten Monaten hier begegnet bin. Die Pritsche
ruckelt ein wenig. Von irgendwo ein dumpfes Geräusch. Stimmen aus dem
Nebenraum. Einmal huscht Dr. T. vorbei. Wenn es gerade nicht irgendwo im
Gesicht, auf der Brust, an Armen oder Beinen kribbelt und juckt, drohe ich
einzunicken.
Die eigentliche Nierenszintigrafie dauert rund 45
Minuten, inkl. fünfter und sechster Blutentnahme. Dann darf ich gehen, sieben
Stunden später. Rasch nach draußen, tief Luft holen. Warten auf S. Trotz
Sonnenschein ist es kalt und feucht, fast schon usselig. Acht Minuten später
fährt S. vor. Sie freut sich, dass es mir gut geht.