Sonntag, 8. Januar 2017

Eine Chronik (26)

Dritter und letzter Tag des ersten Zyklus der Radiopeptidtherapie. Schlecht geschlafen, für einmal. Rücken weh. Wegen der Gummimatratze? Der Therapie? Der fehlenden Bewegung in den letzten Stunden?
Als der Patient, gegen sieben, endlich in Tiefschlaf abgetaucht ist, kommt Herr K. hereingestürmt, ekelhaft gut gelaunt. Temperatur, Blutdruck, Puls, Blutentnahme. Der alte Zugang liegt noch, gibt aber nicht genug Flüssigkeit her. Also nochmals gepiekst werden, für ein paar Milliliterchen.
Auch das Frühstück, das gleiche wie gestern, kommt früh. Doch kaum habe ich mir eine Brotscheibe bestrichen, werde ich erneut in die Dosimetrie zitiert, für weitere Kontrollaufnahmen. Ein Viertelstündchen auf dem Tisch hin und her geschoben werden, mehr ist es nicht, verspricht Herr K., grinsend.
Anschließend geht auf einmal alles sehr schnell. Nach dem Frühstück kommt der Pfleger, zieht mir den Zugang, klebt ein Pflaster auf die offene Stelle und weist mich an, mein Köfferchen zu packen und mich auf meine imminente Entlassung vorzubereiten. Ach ja, es ist Freitag, bis zum frühen Nachmittag soll die Station geräumt sein, wie Schwester G. gestern verriet.
Auch Frau Dr. I. lässt diesmal nicht lange auf sich warten. Sie überreicht mir den Arztbrief für die Onkologin, gibt ein paar zusätzliche Ratschläge und Erklärungen bezüglich der nächsten Therapieschritte und wünscht, es ist kurz vor Heiligabend, schöne Feiertage, einen guten Rutsch, bis nächstes Jahr.
Kurz nach neun sitze ich in der Cafeteria der Klinik und warte, dass S. mich abholt. Fühle mich gut, höchstens ein wenig erschöpft, schlapp, wacklig in den Knien. Lese mehr über Vivian und ihre Düfte.
Was ich zu erwähnen vergaß: die beiden Fotos, eins an der linken und eins an der rechten Zimmerwand. Rechts das Klischee von einem süditalienischen Dorf, links eine idealtypische Blumenwiese im Sommer. Ich kann mich einfach nicht der Versuchung erwehren, mich vor beiden Motiven zu fotografieren, und sei es nur halbhäuptig.
Und was ich zum nächsten Therapiezyklus in acht Wochen unbedingt einpacken muss: ein eigenes Kopfkissen, frisches Obst, Obstsäfte, Marzipan und … einen Flachmann mit ein paar gehörigen Schlucken Brandy.

Freitag, 6. Januar 2017

Eine Chronik (25)

Donnerstag, 7:30. Herr K. und sein Messgerät, mit Manschette und Klettverschluss. Er misst Temperatur, Blutdruck und Puls. Die gestrigen Infusionen zeigen keinerlei Nebenwirkungen. Seien Sie doch froh, sagt Herr K. Wir reden über Fußball. Herr K. ist seit seiner Kindheit Anhänger von Borussia Mönchengladbach. Vor zwei Tagen war er noch im Stadion. Wie damals, 1971, als Roberto Boninsegna, ein Spieler von Inter Mailand, auf dem Bökelberg nach einem Büchsenwurf zu Boden ging.
Mir schwillt heute noch so der Kragen, wenn ich nur diesen Namen höre! Bo-nin-segna!, sagt Herr K., hält die Hand vor seinen Hals und macht eine Geste, als wuchere ihm dort eine riesige Geschwulst.
Kurz nach acht, noch während ich beim Frühstück sitze, werde ich zur Messung der Strahlendosis in den Dosimeter bestellt. Herr K. geht voran, durch die hell erleuchteten Flure des Labyrinths. Ich frage ihn, ob er mir am Kiosk im Eingangsbereich der Klinik eine Tageszeitung besorgen kann. Ich darf ja nicht raus aus dem Bunker, wegen der Radioaktivität in meinem Körper, die hier von allen und immer nur „Aktivität“ genannt wird, vermutlich, weil das neutraler klingt, vielleicht auch positiver. So wie niemand hier auf der Station, zumindest nicht in Präsenz des Patienten, Wörter wie Tumor, Krebs, Krankheit, Tod in den Mund nimmt.
Nach der Dosimetrie gibt es einstweilen nichts mehr zu tun. Ich kann lesen, notieren, überlegen, so lange ich will. Genauer: Bis das Mittagessen serviert wird, lange bevor es Mittag ist. Leichte Vollkost: in Stückchen geschnittenes Hähnchenbrustfilet, dazu Basmati- und Wildreis sowie Erbsen. Als Dessert Sommerfrüchtejoghurt und zwei Kekse.
Nach der Mittagspause steht ein SPECT auf dem Programm. Ich lasse mir den Begriff erklären (Einzelphotonen-Emissionscomputertomografie: SPECT von englisch single photon emission computed tomography) und verstehen trotzdem nicht wirklich, was diesmal passieren wird.
Schwester G. schiebt mich, obwohl ich natürlich genauso gut laufen könnte, im Rollstühlchen durch lange Korridore, um viele Ecken, durch gläserne Türen, auf denen geschrieben steht: „Durchgang verboten“, an Wartenden vorbei, die mich nur aus den Augenwinkeln anzuschauen wagen – wie ich auch sie.
Bis auf die Unterhose ausziehen, hinlegen, Arme fest an den Oberkörper pressen, nicht bewegen, auch nicht die Zehen. Zum Glück kreist die Gammakamera – so heißt sie, das weiß ich inzwischen – um mich und ich nicht um sie. Die Klimaanlage verströmt kühle Luft. Wenigstens hat man mir eine dünne Wolldecke auf die nackten Beine gelegt. Zunächst juckt es an der Nase, später auch noch auf der Stirn. Ich kann mich nicht wehren, nur versuchen, das Jucken durch Konzentration und Willen zu bekämpfen. Oder an Schwester G. zu denken, die versprochen hat, mir nach dem SPECT etwas Süßes aufs Zimmer zu bringen.
Eine Stunde später sitze ich vor einer Tasse Kakao und zwei Scheiben Zwieback mit Aprikosenkonfitüre. Vor wie vielen Jahrzehnten habe ich zuletzt heiße Schokolade getrunken, Zwiebackkrümel an den Lippen kleben gehabt?
Gleichzeitig lese ich bei Falkner von dem Mann, „dessen Finger nach Vivians Möse dufteten“. Ein hübscher Kontrast. Aber habe ich den Namen Vivian nachträglich nicht selbst eingesetzt, persönlichen Erinnerungen folgend?
Abendessen kommt um halb sieben: das Gleiche wie gestern. Meine Schuld! Hätte ja auch etwas anderes auf dem Bestellformular ankreuzen können.

Mittwoch, 4. Januar 2017

Eine Chronik (24)


Erster Tag des ersten Zyklus der Radiopeptidtherapie. Betrete das Klinikum kurz nach acht mit meinem altmodischen, radlosen Köfferchen, in dem neben Kleidung, Wäsche und den üblichen Hygieneartikeln jede Menge Lese- und Schreibstoff transportiert wird. Bin guter Dinge. Aber nicht lange. Bei der Patientenaufnahme stellt sich heraus, dass – einmal mehr – diverse Formulare fehlen. Endloses Herumtelefonieren, Diskutieren, Kopieren, Faxen, Mailen … Als ich mich, zwei Stunden später, bereit erkläre, mit 2.000 Euro in Vorkasse zu treten, geht alles plötzlich ganz schnell.
Mein Zimmer liegt auf Etage -2, nuklearmedizinische Station NU01, Flur 30. Es trägt die Nummer 7, meine Glücksziffer. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Fernsehapparat, der an einem Schwenkarm von der Wand hängt und mit einem Telefon kombiniert ist. Auf Wunsch und gegen Extrabezahlung kann man über den Bildschirm auch ins Internet. Halb um das Bett herum verläuft eine schulterhohe, massive Mauer, wegen des Strahlenschutzes, nehme ich an. Ich vermisse einen Sessel, einen bequemen Lesesessel, warum nicht, man kann in der freien Zeit doch nicht ständig auf dieser fiesen Gummimatratze liegen, auf dem harten Stuhl hocken.
Trotz der Lage im Untergeschoss kommt durch zwei große Fenster Tageslicht in den Raum. Doch öffnen lassen die Fenster sich nicht. Stattdessen das ununterbrochene Rauschen der Ventilation. Auch die Zimmertür kann man von innen nicht aufmachen. Für jede Kleinigkeit muss ich auf einen dicken roten Knopf drücken und das Personal herbeiklingeln. Und ein Bad gibt es auch nicht, weder Dusche noch Wanne, vermutlich damit keine Radioaktivität in die Kanalisation gerät.
Kaum habe ich den Koffer ausgepackt, kommt Herr K., der Pfleger, mit dem Infusionsgestell und den langen Schläuchen hereingefahren. Ihm folgt Dr. H., der die Tüten mit den Flüssigkeiten bringt: die Lysin-Arginin-Lösung zwecks Nierenschutz, Cortison, Ondansetron als Prophylaxe gegen Übelkeit sowie die eigentliche Therapiesubstanz 177Lu-DOTATOC.
Zunächst wird in die rechte Armbeuge ein Zugang mit zwei Öffnungen gelegt. Mal gleichzeitig, mal abwechselnd gelangen die Tropfen aus den diversen Behältern in mein Blut. Als erstes eine Kochsalzlösung, um die Adern einmal kräftig durchzuspülen.
Den Arm so wenig wie möglich bewegend liege ich, mangels Lesesessel, am helllichten Tag in Jogginghose und Hoody auf dem Bett und möchte mich „Apollokalypse“ von Gerhard Falkner widmen, ein vorzeitiges Weihnachtsgeschenk von S. Leider liegt das Buch unerreichbar weit weg auf dem Tisch. Es ist mir peinlich, Herrn K. herbei zu befehligen. Also schaue ich dem Tropf beim Tropfen zu.
Als nur noch die Nephroprotektion angeschlossen ist, gibt es ein verspätetes Mittagessen, es ist bereits halb drei: Rindergulasch mit Kartoffelknödeln (nur noch lauwarm) und Krautsalat (schon etwas matschig). Als Nachtisch ein Quarkdessert und zwei Kekse. Nun hat Schwester G. Dienst. Sie misst meinen Blutdruck, steckt mir die Spitze eines Thermometers ins Ohr. Beiläufig erwähnt sie meine Blase, die ich angeblich zu früh geleert habe. Ich frage, ob sie, falls nötig, etwas später ein bisschen Pipi von mir bekommen möchte. Sie lehnt dankend ab.
Ab jetzt kommt Schwester G. jede halbe Stunde, um den Blutdruck zu messen. Keine auffälligen Veränderungen, alles im grünen Bereich, sagt sie, für Ihr Alter, Ihre Körpergröße, Ihr Gewicht. Das leichte Schwitzen sei normal nach all den Infusionen. Vielleicht liege es auch bloß daran, dass es ein bisschen schwül sei im Zimmer und keine frische Luft reinkomme.
Das erste Abendmahl besteht aus heißer Gemüsebrühe, an der ich mir die Zunge verbrenne, je zwei Scheiben Roggenmischbrot und Weißbrot, einer Scheibe Wurstaufschnitt, einer Scheibe Schnittkäse, einem Eckchen Camembert, einem Töpfchen Konfitüre und 30 Gramm Butter.
Später am Abend, kurz vor neun, kommt die Schwester von der Nachtschicht und zwackt die Lysin-Arginin-Lösung ab. In gut acht Stunden sind zwei Liter in mich gelaufen, ein Tränchen nach dem andern. Endlich kann ich mich wieder frei bewegen, im Zimmer, ohne das Gestell im Schlepptau, den hochgeschossenen Hund auf Rädern. Und lesen, sogar mit angewinkeltem Arm.
Heute hat der Winter begonnen. Es war der kürzeste Tag des Jahres. Ab morgen schenkt der Himmel uns mit jedem Tag ein paar Minuten mehr Licht.