Erster Tag des ersten Zyklus der Radiopeptidtherapie.
Betrete das Klinikum kurz nach acht mit meinem altmodischen, radlosen Köfferchen,
in dem neben Kleidung, Wäsche und den üblichen Hygieneartikeln jede Menge Lese-
und Schreibstoff transportiert wird. Bin guter Dinge. Aber nicht lange. Bei der
Patientenaufnahme stellt sich heraus, dass – einmal mehr – diverse Formulare
fehlen. Endloses Herumtelefonieren, Diskutieren, Kopieren, Faxen, Mailen … Als
ich mich, zwei Stunden später, bereit erkläre, mit 2.000 Euro in Vorkasse zu
treten, geht alles plötzlich ganz schnell.
Mein Zimmer liegt auf Etage -2, nuklearmedizinische
Station NU01, Flur 30. Es trägt die Nummer 7, meine Glücksziffer. Ein Bett, ein
Tisch, ein Stuhl, ein Fernsehapparat, der an einem Schwenkarm von der Wand
hängt und mit einem Telefon kombiniert ist. Auf Wunsch und gegen Extrabezahlung
kann man über den Bildschirm auch ins Internet. Halb um das Bett herum verläuft
eine schulterhohe, massive Mauer, wegen des Strahlenschutzes, nehme ich an. Ich
vermisse einen Sessel, einen bequemen Lesesessel, warum nicht, man kann in der
freien Zeit doch nicht ständig auf dieser fiesen Gummimatratze liegen, auf dem
harten Stuhl hocken.
Trotz der Lage im Untergeschoss kommt durch zwei große
Fenster Tageslicht in den Raum. Doch öffnen lassen die Fenster sich nicht. Stattdessen
das ununterbrochene Rauschen der Ventilation. Auch die Zimmertür kann man von
innen nicht aufmachen. Für jede Kleinigkeit muss ich auf einen dicken roten
Knopf drücken und das Personal herbeiklingeln. Und ein Bad gibt es auch nicht,
weder Dusche noch Wanne, vermutlich damit keine Radioaktivität in die
Kanalisation gerät.
Kaum habe ich den Koffer ausgepackt, kommt Herr K.,
der Pfleger, mit dem Infusionsgestell und den langen Schläuchen hereingefahren.
Ihm folgt Dr. H., der die Tüten mit den Flüssigkeiten bringt: die
Lysin-Arginin-Lösung zwecks Nierenschutz, Cortison, Ondansetron als Prophylaxe
gegen Übelkeit sowie die eigentliche Therapiesubstanz 177Lu-DOTATOC.
Zunächst wird in die rechte Armbeuge ein Zugang mit
zwei Öffnungen gelegt. Mal gleichzeitig, mal abwechselnd gelangen die Tropfen
aus den diversen Behältern in mein Blut. Als erstes eine Kochsalzlösung, um die
Adern einmal kräftig durchzuspülen.
Den Arm so wenig wie möglich bewegend liege ich,
mangels Lesesessel, am helllichten Tag in Jogginghose und Hoody auf dem Bett
und möchte mich „Apollokalypse“ von Gerhard Falkner widmen, ein vorzeitiges
Weihnachtsgeschenk von S. Leider liegt das Buch unerreichbar weit weg auf dem
Tisch. Es ist mir peinlich, Herrn K. herbei zu befehligen. Also schaue ich dem
Tropf beim Tropfen zu.
Als nur noch die Nephroprotektion angeschlossen ist,
gibt es ein verspätetes Mittagessen, es ist bereits halb drei: Rindergulasch
mit Kartoffelknödeln (nur noch lauwarm) und Krautsalat (schon etwas matschig).
Als Nachtisch ein Quarkdessert und zwei Kekse. Nun hat Schwester G. Dienst. Sie
misst meinen Blutdruck, steckt mir die Spitze eines Thermometers ins Ohr.
Beiläufig erwähnt sie meine Blase, die ich angeblich zu früh geleert habe. Ich
frage, ob sie, falls nötig, etwas später ein bisschen Pipi von mir bekommen
möchte. Sie lehnt dankend ab.
Ab jetzt kommt Schwester G. jede halbe Stunde, um den
Blutdruck zu messen. Keine auffälligen Veränderungen, alles im grünen Bereich,
sagt sie, für Ihr Alter, Ihre Körpergröße, Ihr Gewicht. Das leichte Schwitzen
sei normal nach all den Infusionen. Vielleicht liege es auch bloß daran, dass
es ein bisschen schwül sei im Zimmer und keine frische Luft reinkomme.
Das erste Abendmahl besteht aus heißer Gemüsebrühe, an der
ich mir die Zunge verbrenne, je zwei Scheiben Roggenmischbrot und Weißbrot,
einer Scheibe Wurstaufschnitt, einer Scheibe Schnittkäse, einem Eckchen
Camembert, einem Töpfchen Konfitüre und 30 Gramm Butter.
Später am Abend, kurz vor neun, kommt die Schwester
von der Nachtschicht und zwackt die Lysin-Arginin-Lösung ab. In gut acht
Stunden sind zwei Liter in mich gelaufen, ein Tränchen nach dem andern. Endlich
kann ich mich wieder frei bewegen, im Zimmer, ohne das Gestell im Schlepptau,
den hochgeschossenen Hund auf Rädern. Und lesen, sogar mit angewinkeltem Arm.
Heute hat der Winter begonnen. Es war der kürzeste Tag
des Jahres. Ab morgen schenkt der Himmel uns mit jedem Tag ein paar Minuten
mehr Licht.
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