Montag, 20. August 2018


Nachtrag:
Am Montag, dem 13. August 2018, ist Georges Hausemer im Aachener Universitätsklinikum an seiner Tumorerkrankung gestorben.

Samstag, 9. Juni 2018

Eine Chronik (75)


Zwei Tage später, wie gehabt, die monatliche Spritze. Diesmal ohne zusätzliche Kontrolle der Blutwerte, ohne Gesprächstermin mit der Onkologin. Einfach nur die Spritze. Der dickflüssige, milchige Stoff, der sehr sehr langsam in die Hüfte injiziert wird.
Während sie schräg hinter mir steht und ihre tägliche Arbeit verrichtet, verrät mir die gutgelaunte Asiatin, dass sie in den letzten Tagen ebenfalls krank war. Ein bisschen zumindest, sagt sie. Erkältung?, frage ich zurück. Na ja, erwidert sie, eine Art Erkältung. Ich ahne, dass sie nicht über das sprechen möchte, was genau sie hatte. Vielleicht schummelt sie und hatte in Wahrheit gar nichts, will aber, dass ich mich besser fühle, wenn ich erfahre, dass sogar Krankenschwestern und anderes Pflegepersonal manchmal krank werden.
Dabei fühle ich mich gar nicht schlecht. Und dass ich bei weitem nicht der einzige Kranke bin und andere viel schlimmer dran sind, weiß ich spätestens, seit ich in der hämatologisch-onkologischen Praxis in W. ein und aus gehe.
Nach einer halben Stunde ist alles vorbei. Draußen scheint die Sonne. Wir haben Hunger. Da S. heute Geburtstag hat, beschließen wir, nicht sofort an unsere Schreibtische zurückzukehren, sondern eine Kleinigkeit essen zu gehen. Wir landen im lauschigen Laubengarten des türkischen Restaurants, das wir schon häufiger nach Arztterminen aufgesucht haben. Köfte, Salat, Reis, überbackene Aubergine, dazu alkoholfreies Bier im Schatten.
Wein vertrage ich seit drei Jahren nur noch in Spanien und auf Reisen. Seltsam. Etwas Psychosomatisches? Wir verstehen es nicht. Auch Frau Dr. K., der wir von dem sonderbaren Phänomen erzählt haben, kann es sich nicht erklären. Zum Glück munden alkoholfreie Biere und Sekte inzwischen fast so gut wie die richtigen. Nur nullprozentigen Rotwein kann man nicht saufen. Schmeckt wie gekippter Traubensaft. Wie verdünnte Buttermilch, die zu lange in der Sonne stand.    

Dienstag, 5. Juni 2018

Eine Chronik (74)


Seit ein paar Tagen zurück aus Donostia. Es waren etliche eher unerfreuliche Tage dabei, in den gut zwei Wochen, diesmal: der fast schon übliche Wohnungsärger, die Folgen der weiterhin heranschwappenden Tourismuswellen, die rauer werdenden Sitten und zunehmend unerfreulichen Gebräuche der Einheimischen, auch im Umgang mit den ausländischen Gästen. Selbst das Wetter am Atlantik war diesmal nicht recht in Form. Genauso wenig wie der wiederkehrende Besucher, dem öfter die Kräfte schwanden, gelegentlich die Energie abhandenkam, der sich zuweilen aufraffen musste, um bei Sturm, Regen und Kälte seine vier Wände zu verlassen, und sei es nur, um sich eine Tageszeitung zu besorgen. Und dann bot diese auch noch – häufiger als üblich, wie dem Gast schien – Artikel über allerlei Krankheiten, Sterben und Tod. Gut, die Fußballsaison war so gut wie vorbei, alle Entscheidungen längst gefallen. Die Strandsaison hingegen hatte noch nicht einmal begonnen, nirgendwo auch nur der leiseste Duft nach Sommer, Sand und Sonnencreme.
Das Schlimme am Krebs sei, sagte einer der Interviewpartner der Journalistin, nicht der zu erwartende Tod, auf den schließlich alles Leben hinauslaufe. Nein, das Schlimme am Krebs sei die Ungewissheit, wann und unter welchen Umständen dieser Tod dann schließlich eintrete. Und dass kein Arzt der Welt eine Prognose wagen, niemand dem Patienten ausmalen würde, wie das Endszenario und der Weg dorthin sich möglicherweise gestalten werden, womit zu rechnen, was zu erwarten sei, wie man sich auf das Unausweichliche vorbereiten könne. Das Wort Tod nimmt auch im Krankenhaus, in der ärztlichen Praxis, in den Labors und sonstigen Untersuchungsräumen niemand gerne in den Mund.  


Montag, 4. Juni 2018

Eine Chronik (73)


Der Kugelschreiber in meiner Hand ist ein ganz schlichter, altmodischer. Ein echter, nämlich von der Firma BIC, der sich nicht aufschrauben, dessen Mine sich nicht austauschen – bei den Wörtern Mine und Miene muss ich stets etwas länger überlegen, welches in dem einen oder anderen Zusammenhang das richtige ist –, aber dank eines winzigen Knöpfchens mit einem Klick im Inneren des haarfein geriffelten Plastikgehäuses zum Verschwinden bringen lässt. Nur die Farbe der Tinte, eine Mischung aus Himmelblau und Türkis, ein Ton, in dem man sich neuerdings auch Eiscreme bestellen kann – pitufo, wie es auf Spanisch heißt, also schlumpffarben –, die Farbe der Tinte also wirkt, weil vintage-artig aufgepäppelt, äußerst zeitgemäß. Während das Kügelchen an der Spitze des Schreibgeräts so geschmeidig über das Papier rollt, dass die Gedanken den Bewegungen der Hand fast nicht hinterherkommen.
Und was schreibe ich mit dem BIC, der mir plötzlich, ich weiß nicht, woher und wieso, in die Finger geraten ist?   


Mittwoch, 2. Mai 2018

Eine Chronik (72)


Stable disease: das Zauberwort. Kein Rück- und kein Fortschritt. Stabil: Mehr darf man nicht erwarten. Seit der Bronchoskopie Ende März wird mir die monatliche Somatuline-Spritze gesetzt (wie auch morgen wieder), die sechste Radiopeptidtherapie ist bis auf weiteres verschoben. Sonst nichts. Ist auch gar nicht nötig, finden nicht nur die Ärzte.
Seit Wochen keinerlei Beschwerden. Und auch gar keine Zeit dazu. Weil viel zu schreiben, zu korrigieren, zu lesen ist, wie immer eigentlich. Aber nun auch richtig Lust dazu. Die Roman-Neufassung, fast dreißig Jahre später. Die Sammlung von Kürzestgeschichten, die jeden Tag um vier bis fünf Einträge wächst: der nette Herr Fleischhauer, die völlig unverdächtige Frau Dornseiffer (mit zwei F, bitte), der kontrollierte Herr Hertel, der unbeholfene Herr Struff, die attraktive Frau Brimmeyer … Nicht zu vergessen die Verlagsarbeit: die schon vorliegende Neuerscheinung, die kurz bevorstehende Neuerscheinung. Auch Garten, Rasen, Bäume, Hecken und Sträucher wollen versorgt werden. Und für demnächst weitere Ausfahrten und Ausflüge in Planung. Et j’en passe.
Da bleibt weder Zeit noch Kraft für Kummer und Trübsal. Gut so. Ganze Tage vergehen ohne einen Gedanken ans nicht ganz normale Innenleben, das auch inspiriert, ermuntert und ermutigt. Alle anderen Gedanken kommen mir hell, klar und präzise vor, wie selten zuvor. Wie meine alte Stimme, die M. dieser Tage im Radio hörte, eine 35 Jahre alte Stimme, die M. zwar vertraut vorkam, wie sie sagte, aber gleichzeitig wie aus einer anderen Welt.   




Sonntag, 25. März 2018

Eine Chronik (71)


Heute kein Frühstück. Letzter Tropfen Flüssigkeit um Mitternacht. Muss nüchtern sein, in allen Hinsichten. Kurz nach acht kommt Pfleger S., ich soll mich waschen, Zähne putzen, mich bereithalten, ja, im Schlafanzug, das sei perfekt. Nein, er weiß nicht, wann die Reihe an mir sein wird, aber wir haben, behauptet er, derzeit eine Menge Arbeit.
Tue, wie mir befohlen. Setze mich, im Pyjama, auf das neue, vollelektrische Bett und … warte. Warte, lese Zeitung und … warte. Warte, mache ein paar Notizen, warte. Warte, starre auf die Mineralwasserflasche und … warte. Starre auf den Zugang auf meinem rechten Handrücken und … warte. Irgendwann kommt die Putzfrau. Sie sind derzeit der einzige Patient auf der Station, verrät sie, was mich wundert, nach allem, was Pfleger S. mich am Morgen wissen ließ. Ich bekomme hier auch oft komische Antworten, sagt die Putzfrau, kopfschüttelnd. Nach dem Staubwischen und feuchten Aufnehmen geht sie wieder.
Ich warte weiter. Stoße bei der Lektüre auf den Begriff Tivolikugel. Frage mich, was eine Tivolikugel wohl sein mag, bin aber zu träge, um mich mittels Smartphone auf die Suche zu machen. Stattdessen: Warten! Kurz vor elf bin ich überzeugt, dass kurz nach elf etwas passieren wird. Allmählich wird mir kalt, in meinem dünnen Schlafanzug. Ziehe mir die Daunenjacke über und … warte. Bald sind sämtliche Zeitungen ausgelesen. Wegen des Katheters in und des Verbands an der rechten Hand fällt das Schreibstifthalten mir schwer.
Um zwölf passiert immer noch nichts. Stille auf dem Flur, auch von draußen, wo nur ein paar Tauben fröstelnd in den noch kahlen Bäumen hocken und gurren, gurren, gurren. Und das leise Surren des Kühlschranks, in dem ein paar Flaschen Saft, Obst, ein Stück Marzipan verstaut sind. Aber ich muss ja nüchtern bleiben.
Kurz nach 13 Uhr kommen zwei Krankenschwestern, die ich nie zuvor gesehen haben. Ich soll mich in mein Bett legen, mir die Decke bis unters Kinn ziehen, es sei kalt auf den Fluren, zugig. Sie bringen mich zur Lungenspiegelung. Frau Dr. O. erwartet mich bereits und begrüßt mich per Handschlag. Es ist ungewohnt, jemandem beim ersten Mal im Liegen gegenüberzu… na ja … treten. Gleich verabreichen wir Ihnen eine Ladung Propofol, und Sekunden später träumen Sie von Sonne, Meer und leckeren Cocktails. Sediert werden, denke ich und merke gerade noch, wie eine Spritze mit sahnefarbener Flüssigkeit von oben in den Katheter in meiner rechten Hand geschoben wird. Ein letzter Blick auf die Wanduhr. Es ist 13:20. Beim nächsten Blick an der Mauer hoch ist es 13:45, Frau Dr. O. berührt sanft meine Wange und fragt, ob ich bereits wieder da bin. Dann zeigt sie mir die Fotos, die sie soeben in meinem Inneren gemacht hat. Nicht erschrecken, empfiehlt sie, von der roten Farbe auf den Bildern müssen Sie sich achtzig Prozent wegdenken, dann wissen Sie ungefähr, wie es da drinnen aussieht.
Apropos vollelektrisches Bett bzw. Stuhl: Für ihre letalen Giftspritzen verwenden die amerikanischen Behörden bei der Exekution zum Tode verurteilter Häftlinge ebenfalls Propofol, was der deutsche Hersteller des Produkts mit Handelsbeschränkungen in den USA zu verhindern versucht. Bisher nur mit bescheidenem Erfolg.

Samstag, 24. März 2018

Eine Chronik (70)


Ausnahmsweise wieder einmal im Klinikum in W., wo vor ziemlich exakt zwei Jahren und einer Woche alles begann. Diesmal zwecks Bronchoskopie. Aufnahme am Tag zuvor, gleich anschließend EKG, Blutgasanalyse und Lungenfunktionstest, danach auf die Station, Anmeldung beim Case-Management und Zimmerzuweisung.
Pfleger S. kommt mit einem noch in Plastik verpackten Bett hereingerollt, für Sie diesmal ein komplett neues, vollelektrisches Bett, behauptet er. Ich will wissen, ob das mit den vollelektrischen Stühlen zu vergleichen sei, die in den USA bis heute in Gebrauch sind. Haha! Obendrein der allerneueste Matratzenstandard, sagt Pfleger S., passt sich Ihrem Körper genau an, in jeder Lage. Ich teste sie mit sanftem Fingerdruck und bin einverstanden.
Statt Mittagessen wird mir ein Fläschchen Multivitaminsaft serviert, dann steht auch schon Schwester I. in der Tür. Soll mich mal kurz auf mein neues Bett setzen. Eine Minute lang schaut Schwester I. mich an und verkündet: Meine Atemfrequenz liegt bei 19, ich bin Brustatmer, wie die meisten Männer, kein Bauchatmer, wie die weibliche Mehrheit.
Was man doch immer noch an Neuem erfährt! Später etwa, beim Zeitunglesen, nachdem alle Voruntersuchungen abgeschlossen und die Mitarbeiter der Station wieder gegangen sind, dass der japanische Autobauer Nissan jüngst selbstfahrende und selbstparkende Pantoffeln entwickelt hat. Echt. Zum Glück fahren die Hausschuhe nur in Schrittgeschwindigkeit, so dass schwerwiegende Unfälle ausgeschlossen werden können.
Kurz nach 17 Uhr wird das Abendessen serviert: zwei Schreiben Körnerbrot, Hähnchen-Pastete mit Putenfleisch (!), Schmelzkäse in Staniolhülle, Marmelade in Plastikschälchen, zwei weitere Plastiktöpfchen mit Halbfett-Margarine, ein Plastikschüsselchen mit Rote-Rüben-Würfelchen. Lasse einstweilen alles stehen, kalt kann es sowieso nicht werden. Ganz davon abgesehen, dass mehr Verpackung als Inhalt aufgetischt wird.
Entdecke im Bad, über dem Waschbecken, einen mit Tesa befestigten Zettel mit der handschriftlichen Notiz Kein Trinkwasser! Seltsam, ein Krankenhaus, in dem man sich von Wasserhähnen besser fernhält.