Donnerstag, 15. Juni 2017

Eine Chronik (43)


Tut mir leid – nein, nicht wirklich –, aber diesmal muss der blinde Passagier zuhause bleiben. Auf einem Segelschiff sind ungebetene Gäste nicht geduldet, selbst wenn der Kutter vielsagend Nirwana heißt. Sämtliche Kajüten sind belegt, Sessel gibt es sowieso keine, auf den Holzbänken im Gemeinschaftsraum ist kein Platz für überzählige Esser und Trinker, denn an den langen Tischen der Zeit, wie Paul Celan dichtete, „zechen die Krüge Gottes“ und sonst niemand.

27 Mann hoch, darunter auch etliche Damen, lassen sich kommod übers IJsselmeer schaukeln, mal sanft, mal heftiger. Doch so ganz ohne eigenes Zutun geht das nicht. Ab und an müssen Klüver, Fock, Besan und Großsegel gesetzt und auch wieder eingeholt werden. An dicken Seilen ist zu ziehen, schwere Stoffbahnen müssen aus- und sorgfältig wieder eingerollt werden, damit keine „schwangeren Elefanten“ entstehen. Und auch um die Verpflegung der Teilnehmer sowie der Crew muss sich gekümmert werden, wenn kein Smutje an Bord, der nächste Caterer seemeilenweit entfernt ist. Nicht zu vergessen die Unterhaltung an sowie unter Deck, zu der jeder Gast sein Bestes beitragen muss, und sei es, dass er ab und zu ein Liedchen anstimmt oder beiläufig ein paar Grimassen schneidet.

Auf mehr oder weniger hoher See, selbst beim Trockenfallen auf einer Sandbank im Wattenmeer werden die Wünsche bescheidener, die Erwartungen geringer. Hauptsache, die Kleidung wärmt, der Magen ist gefüllt, die Sonnencreme schützt und die Unterwäsche bleibt trocken. Nicht einmal die diversen Pillchen und Tröpfchen in meinem Gepäck kommen zum Einsatz. Nichts meldet sich, kein Druck auf der Brust, kein Ziehen im Rücken, kein Zwicken im Magen. Für Stunden kommt kein noch so beiläufiger Gedanke an den Daheimgelassenen auf. Alles konzentriert sich, wie ein immer enger werdender Kreis, der irgendwann in der Mitte zu einem kaum noch sichtbaren Punkt zusammenschrumpft, auf die Nirwana, ihre momentane Besatzung, die Kommandos der Skipperin und der Matrosin, das erstaunliche Verhalten von Lobke, dem Bordhund.

Am Ende legt der Zweimastklipper an drei Tagen 70 Seemeilen zurück, etwa 130 km, trotz anfänglicher Flaute und unberechenbaren Windwetters zwischendurch. Nicht schlecht für maritime Dilettanten wie uns, denen der Tod in diesen Tagen nur durch Ertrinken möglich scheint!      

Nach der Rückkehr aus den entspannten und entspannenden Niederlanden lese ich in Tomas Espedals „Biografie, Tagebuch, Briefe“: „Es ist nicht schwer, über den Tod zu reden. Wir reden unablässig über den Tod. Wir reden über den Garten und den Nachbarn, der Tod ist da. Wir reden über unsere Eltern und Kinder, der Tod ist da, und wir können nicht anders, wir vergessen und reden über all das Gute, das gewesen ist, und der Tod war schon damals da, und egal, worüber wir reden, der Tod ist in jedem einzelnen Wort und in jedem Atemzug und in dem kleinsten Bestandteil von dem, was wir sind …“

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