Erste Zahlen am Morgen kurz nach sieben: 142-85-95.
Noch während ich frühstücke,
tritt unerwartet der Klinikdirektor, Dr. M., ins Zimmer. Es ist hier nicht
üblich, einander mit Handschlag zu begrüßen, wegen, nehme ich mal an,
Ansteckungsgefahr oder so. Er wiederholt, was gestern Dr. H. bereits
berichtete: Es gibt keine neuen Infektionsherde, das Wachstum der kranken
Zellen ist einstweilen gebremst, der englische Fachbegriff für die derzeitige
Situation lautet: „stable disease“.
Kaum ist der Doktor wieder
gegangen, werde ich zur nächsten Szintigrafie gerufen. Aber ich muss doch noch
Zähne putzen, Hose, Hemd und Schuhe anziehen! Ich laufe doch nicht ungewaschen
im Pyjama auf den Klinikfluren herum … Gut, sagt Schwester Rita, dann hole ich
Sie erst in einer Viertelstunde ab.
Leider hat die hübsche Blonde mit
dem orangenen T-Shirt und dem kecken Dekolletee, die mir beim letzten Mal so
zärtlich die Hemdsärmel hochkrempelte, als ich vor ihr auf dem Schiebetisch der
E.Camera lag, heute keinen Dienst. Osterferien? Nun, ihre dunkelhaarige
Kollegin ist auch sehr nett und holt mich nach 15 Minuten bereits wieder aus der
Röhre.
Zurück aufs Zimmer. Ob ich noch
einen frischen Kaffee möchte, fragt Schwester Rita. Warum nicht, der Tag ist
noch lang und momentan sind für heute keine weiteren Untersuchungen vorgesehen.
Zeit zum Lesen, Schreiben, Ausruhen, was leicht fällt mit der aktuellen
Diagnose. „Stable disease“ klingt gar nicht so erschreckend, ja, geradezu
ermutigend unter den gegebenen Umständen.
Bedauerlicherweise musste ich die
für heute geplante Lesung in B. kurzfristig absagen. Hatte schon so etwas
geahnt, obwohl die Therapietermine stets ein paar Wochen im Voraus festgelegt
werden. Aber ein verändertes Blutbild, schwächelnde Nieren können jederzeit
dafür sorgen, dass das ursprüngliche Programm über den Haufen geworfen werden
muss. Statt am Abend vor Publikum zu sitzen und, wie angedacht, die tierische
Titelgeschichte aus dem neuen Buch vorzulesen, werde ich um diese Zeit auf
einem unbequemen Stuhl hocken, Nachrichten und anschließend ein Europa
League-Spiel anschauen. Gelesen und geschrieben habe ich bereits den ganzen
langen Tag über, hinter geschlossenem Fenster, ohne frischen Sauerstoff, so
dass mir der Kopf nun leer und dumpf vorkommt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen