Es war eine der Begegnungen, die mich als Kind am meisten
verfolgten. Wir, die Eltern und ich, hatten, gar nicht so weit von unserem
Wohnort entfernt, ein Benediktinerinnenkloster besucht, in dem eine Tante –
oder war es eine Cousine – meines Vaters als Nonne lebte. In einer Abtei der
ewigen Anbetung.
Wir meldeten uns am Eingang an und wurden in ein Zimmer
mit vier weißen Wänden, einem kleinen Tisch und einer einfachen Holzbank
geführt, in dem es eiskalt war und wo wir eine Weile warten mussten. Erst
während des Wartens fiel mir auf, dass man in eine der blanken Wände eine Art
Fenster eingelassen hatte, das mit zwei Klappläden, ebenfalls aus Holz,
verschlossen war.
Nach einiger Zeit ging die Klappe auf, wie ferngesteuert,
und dahinter kam ein engmaschiges Gitter zum Vorschein. Zögernd näherten wir
uns der dunklen Öffnung, hinter der eine leise Stimme uns begrüßte. Ich war
vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Mein Vater stellte mich dem Schatten
hinter dem Gitter als seinen Erstgeborenen vor. Ob sie, die Tante oder die
Cousine, nun, da sie mich kennen würde, nicht ab und zu für mich und mein
Wohlergehen beten könne?
Nun, mehr als ein halbes Jahrhundert später, halte ich
ein Schwarzweiß-Foto der mit der Zeit namenlos gewordenen Benediktinerin in den
Händen. Darauf zu sehen ist eine junge Frau mit einem runden Gesicht, einer
Brille mit rundem Metallgestell und einem dunkel schimmernden Bartflaum an
beiden Seiten der Oberlippe. Sie trägt einen weißen Schleier, der ihren runden
Kopf einfasst wie ein zu eng geknüpfter Kragen und darüber ein Habit, der ihr
über beide Schultern fällt. Sie hält den Kopf leicht schief. Als Schmuck
baumelt eine miniaturisierte Monstranz vor ihrer Brust und noch weiter unten,
auf dem Bauch, ein gekreuzigter Christus.
Von meiner Mutter habe ich unlängst erfahren, dass unsere
Verwandte irgendwann Priorin ihres Klosters wurde. Damals, so sagte meine
Mutter, habe die schweigsame und vor allem unsichtbare Nonne versprochen,
fortan täglich nicht nur für mich, sondern für uns alle zu beten und für uns da
zu sein, wann immer wir ihre Unterstützung benötigen würden.
Inzwischen, so musste ich erfahren, ist die Cousine –
oder war es doch die Tante – meines Vaters verstorben. Es ist, soweit ich weiß,
nun niemand mehr da, der, mit unmittelbarem Draht zum Himmel, für uns beten
kann.
Wo Muskeln sind und Widerstand, ist kein Platz für den
Krebs. Darum gehen wir immer noch schön regelmäßig ins Fitnessstudio, mein Tumor
und ich. Er sträubt sich, natürlich, er will nicht bekämpft werden, nicht
verdrängt, an der Gurgel gepackt und kräftig durcheinandergewirbelt werden, der
alte Schlappschwanz. Aber ich kann, beim besten Willen, keine Rücksicht darauf
nehmen, was mein Tumor so für Vorstellungen hat. Ja, ich wäre froh, wenn ich
mal ohne seine ständige Begleitung unterwegs sein könnte. Darauf arbeite ich
hin. Auch wenn niemand mehr für mich betet.
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