Eine Chronik (45)
Eigentlich bin ich dauernd verliebt. Nein, nicht in irgendwen, in
irgendwas. In ein Buch beispielsweise – derzeit in „Eine Schachtel Streichhölzer“ von Nicholson Baker, von 2003,
also schon ziemlich alt, eine Empfehlung von David Wagner, der in seinen
Büchern häufig interessante Bücher anderer Autoren empfiehlt –, in ein Bild,
ein Musikstück, einen Film – schon seit einem halben Jahr in „Paterson“, Jim
Jarmuschs Verfilmung eines Gedichts von Carlos William Carlos, äh, sorry, von William
Carlos Williams, in meine Partnerin natürlich, in Länder – Georgien etwa –, in
Serviererinnen und Metzgereifachangestellte, in Städte – Tiflis, was sonst –,
in Friseurinnen (meine allerliebste heißt nicht zufällig Susanne), in
Fußballmannschaften, in die schöne Schusterin aus Aachen, in medizinische
Fachassistentinnen, z. B. die, die mich neulich in die Dosimetrie-Röhre schob
und vorher zärtlich ein Polyesterdeckchen über meine nackten Beine ausbreitete,
in einen Zeitungsartikel, in meinen Automechaniker, nachdem er den
verrücktspielenden Bordcomputer wieder zur Vernunft gebracht hat, in die Stimme
der Führerin durch das Paradjanov-Museum in der armenischen Hauptstadt Eriwan
(in die ich mich damals übrigens auch spontan verliebt hatte, also in die Stadt
Eriwan, sowie in die beiden jungen Damen, die in der Hauptpost von Eriwan
angestellt waren, aber nichts zu tun hatten und sich stattdessen gegenseitig
fotografierten, mit je einem riesigen Hochzeitsstrauß – rosa Rosen! – im Arm;
davon habe ich übrigens auch ein Foto gemacht, ich könnte es Ihnen jederzeit
zeigen, es ist bloß ein wenig unscharf geworden), in die Sonne, in der ich
sitze, während ich dies schreibe, mit der Hand, in einen großen Spiralblock.
Der letzte Therapiezyklus liegt
bereits drei, nein, bald vier Wochen zurück, ich kann mich schon fast nicht
mehr daran erinnern, zum Glück habe ich ein paar Wörter darüber in mein
giftgelbes Notizbuch gekritzelt, ich will mich gar nicht mehr daran erinnern,
nicht jetzt, dabei ging alles gut, die Resultate waren ermutigend, die „stable
disease“ ist stabil wie gehabt, die nächste Kontrolluntersuchung steht erst
Anfang Oktober an, vor mir ein ganzer Sommer, um mich mit dem Garten,
Übersetzungen, Himbeer- und Johannisbeermarmeladen zu beschäftigen, mich
regelmäßig in Ralfs Körperfabrik ins Schwitzen zu bringen, die Oktoberrede
vorzubereiten, Gäste in kurzen Hosen und lauen Blüschen zu empfangen, die neuen
Zeichenstifte aus Alkmaar auszuprobieren, mich in die Unterwäscheverkäuferin
aus dem Nachbarort zu verlieben, spanischen Nacktschnecken zu einem kurzen,
schmerzlosen Tod zu verhelfen, Manuskripte zu lektorieren, mit der
(hoffentlich) nur gespielt knurrenden S. Frauenfußballmatches zu schauen
(bisher keine Offenbarung), mit S. schon am frühen Nachmittag unter den Birken
Sekt (alkoholfrei!) zu trinken, einen hübschen Zeitungshinweis auf das neue
Buch von Tomas Espedal zu lesen: „Schriftsteller zu sein ist kein Ponyhof“
lautet der Untertitel, der des Artikels, nicht der des Buches, das „Biografie,
Tagebuch, Briefe“ heißt –seltsamer Titel.
Andrzej Stasiuk sagte einmal:
„Die polnische Sprache dient dazu, die Welt schwärzer zu malen, als sie ist.“
Und eben ist, wie in „Paterson“, ein schwarzweißes Stück Stoff vom Dach
gefallen. Oder war es eine vom Hagelschauer erwischte Taube? Morgen früh muss
ich zur 14-täglichen Blutabnahme. S. kommt mit, wie fast immer.
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