Ich und mein Tumor
Montag, 20. August 2018
Samstag, 9. Juni 2018
Eine Chronik (75)
Zwei Tage später, wie gehabt, die monatliche Spritze.
Diesmal ohne zusätzliche Kontrolle der Blutwerte, ohne Gesprächstermin mit der
Onkologin. Einfach nur die Spritze. Der dickflüssige, milchige Stoff, der sehr
sehr langsam in die Hüfte injiziert wird.
Während sie schräg hinter mir steht und ihre tägliche
Arbeit verrichtet, verrät mir die gutgelaunte Asiatin, dass sie in den letzten
Tagen ebenfalls krank war. Ein bisschen zumindest, sagt sie. Erkältung?, frage
ich zurück. Na ja, erwidert sie, eine Art Erkältung. Ich ahne, dass sie nicht
über das sprechen möchte, was genau sie hatte. Vielleicht schummelt sie und
hatte in Wahrheit gar nichts, will aber, dass ich mich besser fühle, wenn ich
erfahre, dass sogar Krankenschwestern und anderes Pflegepersonal manchmal krank
werden.
Dabei fühle ich mich gar nicht schlecht. Und dass ich bei
weitem nicht der einzige Kranke bin und andere viel schlimmer dran sind, weiß
ich spätestens, seit ich in der hämatologisch-onkologischen Praxis in W. ein
und aus gehe.
Nach einer halben Stunde ist alles vorbei. Draußen
scheint die Sonne. Wir haben Hunger. Da S. heute Geburtstag hat, beschließen
wir, nicht sofort an unsere Schreibtische zurückzukehren, sondern eine
Kleinigkeit essen zu gehen. Wir landen im lauschigen Laubengarten des
türkischen Restaurants, das wir schon häufiger nach Arztterminen aufgesucht
haben. Köfte, Salat, Reis, überbackene Aubergine, dazu alkoholfreies Bier im
Schatten.
Wein vertrage ich seit drei Jahren nur noch in Spanien
und auf Reisen. Seltsam. Etwas Psychosomatisches? Wir verstehen es nicht. Auch
Frau Dr. K., der wir von dem sonderbaren Phänomen erzählt haben, kann es sich
nicht erklären. Zum Glück munden alkoholfreie Biere und Sekte inzwischen fast
so gut wie die richtigen. Nur nullprozentigen Rotwein kann man nicht saufen.
Schmeckt wie gekippter Traubensaft. Wie verdünnte Buttermilch, die zu lange in
der Sonne stand.
Dienstag, 5. Juni 2018
Eine Chronik (74)
Seit ein paar Tagen zurück aus Donostia. Es waren etliche
eher unerfreuliche Tage dabei, in den gut zwei Wochen, diesmal: der fast schon
übliche Wohnungsärger, die Folgen der weiterhin heranschwappenden
Tourismuswellen, die rauer werdenden Sitten und zunehmend unerfreulichen
Gebräuche der Einheimischen, auch im Umgang mit den ausländischen Gästen.
Selbst das Wetter am Atlantik war diesmal nicht recht in Form. Genauso wenig
wie der wiederkehrende Besucher, dem öfter die Kräfte schwanden, gelegentlich
die Energie abhandenkam, der sich zuweilen aufraffen musste, um bei Sturm,
Regen und Kälte seine vier Wände zu verlassen, und sei es nur, um sich eine
Tageszeitung zu besorgen. Und dann bot diese auch noch – häufiger als üblich,
wie dem Gast schien – Artikel über allerlei Krankheiten, Sterben und Tod. Gut,
die Fußballsaison war so gut wie vorbei, alle Entscheidungen längst gefallen.
Die Strandsaison hingegen hatte noch nicht einmal begonnen, nirgendwo auch nur
der leiseste Duft nach Sommer, Sand und Sonnencreme.
Das Schlimme am Krebs sei, sagte einer der
Interviewpartner der Journalistin, nicht der zu erwartende Tod, auf den
schließlich alles Leben hinauslaufe. Nein, das Schlimme am Krebs sei die
Ungewissheit, wann und unter welchen Umständen dieser Tod dann schließlich
eintrete. Und dass kein Arzt der Welt eine Prognose wagen, niemand dem
Patienten ausmalen würde, wie das Endszenario und der Weg dorthin sich möglicherweise
gestalten werden, womit zu rechnen, was zu erwarten sei, wie man sich auf das
Unausweichliche vorbereiten könne. Das Wort Tod nimmt auch im Krankenhaus, in
der ärztlichen Praxis, in den Labors und sonstigen Untersuchungsräumen niemand
gerne in den Mund.
Montag, 4. Juni 2018
Eine Chronik (73)
Der Kugelschreiber in meiner Hand ist ein ganz
schlichter, altmodischer. Ein echter, nämlich von der Firma BIC, der sich nicht
aufschrauben, dessen Mine sich nicht austauschen – bei den Wörtern Mine und
Miene muss ich stets etwas länger überlegen, welches in dem einen oder anderen Zusammenhang das
richtige ist –, aber dank eines winzigen Knöpfchens mit einem Klick im Inneren
des haarfein geriffelten Plastikgehäuses zum Verschwinden bringen lässt. Nur
die Farbe der Tinte, eine Mischung aus Himmelblau und Türkis, ein Ton, in dem
man sich neuerdings auch Eiscreme bestellen kann – pitufo, wie es auf Spanisch
heißt, also schlumpffarben –, die Farbe der Tinte also wirkt, weil vintage-artig aufgepäppelt, äußerst
zeitgemäß. Während das Kügelchen an der Spitze des Schreibgeräts so geschmeidig
über das Papier rollt, dass die Gedanken den Bewegungen der Hand fast nicht
hinterherkommen.
Und was schreibe ich mit dem BIC, der mir plötzlich, ich
weiß nicht, woher und wieso, in die Finger geraten ist?
Mittwoch, 2. Mai 2018
Eine Chronik (72)
Stable disease: das Zauberwort. Kein Rück- und kein
Fortschritt. Stabil: Mehr darf man nicht erwarten. Seit der Bronchoskopie Ende
März wird mir die monatliche Somatuline-Spritze gesetzt (wie auch morgen
wieder), die sechste Radiopeptidtherapie ist bis auf weiteres verschoben. Sonst
nichts. Ist auch gar nicht nötig, finden nicht nur die Ärzte.
Seit Wochen keinerlei Beschwerden. Und auch gar keine
Zeit dazu. Weil viel zu schreiben, zu korrigieren, zu lesen ist, wie immer
eigentlich. Aber nun auch richtig Lust dazu. Die Roman-Neufassung, fast dreißig
Jahre später. Die Sammlung von Kürzestgeschichten, die jeden Tag um vier bis
fünf Einträge wächst: der nette Herr Fleischhauer, die völlig unverdächtige
Frau Dornseiffer (mit zwei F, bitte), der kontrollierte Herr Hertel, der
unbeholfene Herr Struff, die attraktive Frau Brimmeyer … Nicht zu vergessen die
Verlagsarbeit: die schon vorliegende Neuerscheinung, die kurz bevorstehende
Neuerscheinung. Auch Garten, Rasen, Bäume, Hecken und Sträucher wollen versorgt
werden. Und für demnächst weitere Ausfahrten und Ausflüge in Planung. Et j’en passe.
Da bleibt weder Zeit noch Kraft für Kummer und Trübsal.
Gut so. Ganze Tage vergehen ohne einen Gedanken ans nicht ganz normale Innenleben,
das auch inspiriert, ermuntert und ermutigt. Alle anderen Gedanken kommen mir
hell, klar und präzise vor, wie selten zuvor. Wie meine alte Stimme, die M.
dieser Tage im Radio hörte, eine 35 Jahre alte Stimme, die M. zwar vertraut
vorkam, wie sie sagte, aber gleichzeitig wie aus einer anderen Welt.
Sonntag, 25. März 2018
Eine Chronik (71)
Heute kein Frühstück. Letzter Tropfen Flüssigkeit um
Mitternacht. Muss nüchtern sein, in allen Hinsichten. Kurz nach acht kommt
Pfleger S., ich soll mich waschen, Zähne putzen, mich bereithalten, ja, im
Schlafanzug, das sei perfekt. Nein, er weiß nicht, wann die Reihe an mir sein
wird, aber wir haben, behauptet er, derzeit eine Menge Arbeit.
Tue, wie mir befohlen. Setze mich, im Pyjama, auf das
neue, vollelektrische Bett und … warte. Warte, lese Zeitung und … warte. Warte,
mache ein paar Notizen, warte. Warte, starre auf die Mineralwasserflasche und …
warte. Starre auf den Zugang auf meinem rechten Handrücken und … warte. Irgendwann
kommt die Putzfrau. Sie sind derzeit der einzige Patient auf der Station,
verrät sie, was mich wundert, nach allem, was Pfleger S. mich am Morgen wissen
ließ. Ich bekomme hier auch oft komische Antworten, sagt die Putzfrau,
kopfschüttelnd. Nach dem Staubwischen und feuchten Aufnehmen geht sie wieder.
Ich warte weiter. Stoße bei der Lektüre auf den Begriff
Tivolikugel. Frage mich, was eine Tivolikugel wohl sein mag, bin aber zu träge,
um mich mittels Smartphone auf die Suche zu machen. Stattdessen: Warten! Kurz
vor elf bin ich überzeugt, dass kurz nach elf etwas passieren wird. Allmählich
wird mir kalt, in meinem dünnen Schlafanzug. Ziehe mir die Daunenjacke über und
… warte. Bald sind sämtliche Zeitungen ausgelesen. Wegen des Katheters in und
des Verbands an der rechten Hand fällt das Schreibstifthalten mir schwer.
Um zwölf passiert immer noch nichts. Stille auf dem Flur,
auch von draußen, wo nur ein paar Tauben fröstelnd in den noch kahlen Bäumen hocken
und gurren, gurren, gurren. Und das leise Surren des Kühlschranks, in dem ein
paar Flaschen Saft, Obst, ein Stück Marzipan verstaut sind. Aber ich muss ja
nüchtern bleiben.
Kurz nach 13 Uhr kommen zwei Krankenschwestern, die ich
nie zuvor gesehen haben. Ich soll mich in mein Bett legen, mir die Decke bis
unters Kinn ziehen, es sei kalt auf den Fluren, zugig. Sie bringen mich zur
Lungenspiegelung. Frau Dr. O. erwartet mich bereits und begrüßt mich per
Handschlag. Es ist ungewohnt, jemandem beim ersten Mal im Liegen gegenüberzu…
na ja … treten. Gleich verabreichen wir Ihnen eine Ladung Propofol, und
Sekunden später träumen Sie von Sonne, Meer und leckeren Cocktails. Sediert
werden, denke ich und merke gerade noch, wie eine Spritze mit sahnefarbener
Flüssigkeit von oben in den Katheter in meiner rechten Hand geschoben wird. Ein
letzter Blick auf die Wanduhr. Es ist 13:20. Beim nächsten Blick an der Mauer
hoch ist es 13:45, Frau Dr. O. berührt sanft meine Wange und fragt, ob ich
bereits wieder da bin. Dann zeigt sie mir die Fotos, die sie soeben in meinem
Inneren gemacht hat. Nicht erschrecken, empfiehlt sie, von der roten Farbe auf
den Bildern müssen Sie sich achtzig Prozent wegdenken, dann wissen Sie
ungefähr, wie es da drinnen aussieht.
Apropos vollelektrisches Bett bzw. Stuhl: Für ihre
letalen Giftspritzen verwenden die amerikanischen Behörden bei der Exekution
zum Tode verurteilter Häftlinge ebenfalls Propofol, was der deutsche Hersteller
des Produkts mit Handelsbeschränkungen in den USA zu verhindern versucht.
Bisher nur mit bescheidenem Erfolg.
Samstag, 24. März 2018
Eine Chronik (70)
Ausnahmsweise wieder einmal im Klinikum in W., wo vor
ziemlich exakt zwei Jahren und einer Woche alles begann. Diesmal zwecks
Bronchoskopie. Aufnahme am Tag zuvor, gleich anschließend EKG, Blutgasanalyse
und Lungenfunktionstest, danach auf die Station, Anmeldung beim Case-Management
und Zimmerzuweisung.
Pfleger S. kommt mit einem noch in Plastik verpackten
Bett hereingerollt, für Sie diesmal ein komplett neues, vollelektrisches Bett,
behauptet er. Ich will wissen, ob das mit den vollelektrischen Stühlen zu
vergleichen sei, die in den USA bis heute in Gebrauch sind. Haha! Obendrein der
allerneueste Matratzenstandard, sagt Pfleger S., passt sich Ihrem Körper genau
an, in jeder Lage. Ich teste sie mit sanftem Fingerdruck und bin einverstanden.
Statt Mittagessen wird mir ein Fläschchen
Multivitaminsaft serviert, dann steht auch schon Schwester I. in der Tür. Soll
mich mal kurz auf mein neues Bett setzen. Eine Minute lang schaut Schwester I.
mich an und verkündet: Meine Atemfrequenz liegt bei 19, ich bin Brustatmer, wie
die meisten Männer, kein Bauchatmer, wie die weibliche Mehrheit.
Was man doch immer noch an Neuem erfährt! Später etwa,
beim Zeitunglesen, nachdem alle Voruntersuchungen abgeschlossen und die
Mitarbeiter der Station wieder gegangen sind, dass der japanische Autobauer
Nissan jüngst selbstfahrende und selbstparkende Pantoffeln entwickelt hat.
Echt. Zum Glück fahren die Hausschuhe nur in Schrittgeschwindigkeit, so dass
schwerwiegende Unfälle ausgeschlossen werden können.
Kurz nach 17 Uhr wird das Abendessen serviert: zwei
Schreiben Körnerbrot, Hähnchen-Pastete mit Putenfleisch (!), Schmelzkäse in
Staniolhülle, Marmelade in Plastikschälchen, zwei weitere Plastiktöpfchen mit
Halbfett-Margarine, ein Plastikschüsselchen mit Rote-Rüben-Würfelchen. Lasse
einstweilen alles stehen, kalt kann es sowieso nicht werden. Ganz davon
abgesehen, dass mehr Verpackung als Inhalt aufgetischt wird.
Entdecke im Bad, über dem Waschbecken, einen mit Tesa
befestigten Zettel mit der handschriftlichen Notiz Kein Trinkwasser! Seltsam, ein Krankenhaus, in dem man sich von
Wasserhähnen besser fernhält.
Abonnieren
Posts (Atom)