Montag, 19. Dezember 2016

Eine Chronik (23)

Düsterer Frühmorgen im Dezember. Wenigstens ist es weder kalt noch feucht und ein freier Parkplatz um diese Tageszeit leicht zu finden. Stattdessen die nächste unangenehme Überraschung an der Rezeption der Abteilung für Nuklearmedizin. Heute steht nicht nur, wie eigentlich vereinbart, ein locker hingeplaudertes Vorgespräch an, sondern eine ausführliche Nierenszintigrafie. Dauer: fünf bis sechs Stunden.
Als erstes wird Punkt neun Uhr „dieses radioaktive Zeug“, wie Dr. M es nennt, durch den Zugang im linken Arm gespritzt, dann Blut aus dem Zugang rechts gezapft. Eine Stunde später die nächste Blutentnahme. Zwischendurch darf der Patient mit verbundenen Armbeugen herumspazieren, sich in die Cafeteria setzen, ein Heißgetränk zu sich nehmen, Zeitung lesen, bei Bedarf ein paar neue Blognotizen niederkritzeln.
Elf Uhr: drittes Abzapfen. Ist in weniger als einer Minute passiert. Darf erneut im Warteraum Platz nehmen, mir einen Becher Wasser aus dem Spender genehmigen, den nächsten Zeitungsartikel lesen, mir noch eine Blogzeile ausdenken, während die Nieren ihre gewohnte Arbeit tun und zeigen sollen, dass sie die Behandlung, die nächste Woche angesetzt ist, problemlos wegstecken werden.
Bitte, liebe Nieren, lasst mich nicht im Stich!
Weitere Kunden der Nuklearabteilung kommen und gehen. Neulinge erkennt man an ihren zuckenden, verwirrten Blicken, ihrem Zögern, wenn sie da oder dort eintreten, da oder dort Platz nehmen sollen. Es kommt vor, dass jüngere Frauen unter den Novizen gerötete Augen haben oder sich rasch, damit es möglichst beiläufig wirkt, eine Träne von der Backe wischen. Routinierte Patienten hingegen verraten sich durch ihre Zielstrebigkeit, die Klarheit ihrer Gesten und Bewegungen. Sie wissen, dass sie die Schalter mit der Aufschrift „Türöffner“ drücken müssen, damit die Türen sich öffnen, sofern sie nicht gerade vor eine Tür kommen, die sich von selbst öffnet, wenn jemand sich ihr nähert.
Zwölf Uhr: vierte Blutprobe. Während des Wartens wird die Lektüre der Patienteninformationen empfohlen. Anschließend darf man sich einverstanden erklären oder seine Unterschrift verweigern.
Dreizehn Uhr: fünfte und letzte Entnahme. Danach geht es sofort auf den fahrbaren Tisch mit der unter der Tischplatte angebrachten Gammakamera. „Bitte nicht mehr bewegen!“ Eine neue Flüssigkeit wird in den Katheter gespritzt, diesmal rechts. Die muss sich verteilen, in die Nieren hinein und wieder aus den Nieren hinaus fließen.
Eine halbe Stunde dauert die Prozedur. Die Kamera zeichnet alles auf. Wenn kein deutliches Bild entsteht, muss die Sache wiederholt werden. Noch einmal zwanzig Minuten.
Für einmal habe ich Glück. Das Resultat ist eindeutig, schon nach dem ersten Durchgang: Die Nieren funktionieren bestens. Der dreitägigen Quarantäne steht im Prinzip nichts mehr im Weg. Ich erfahre, was ich in meiner kleinen Reisetasche alles mitbringen soll. Sogar eine Flasche Wein wird erlaubt, wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand. Vorab darf ich sogar schon den Speisezettel ausfüllen und soll angeben, was ich am kommenden Mittwoch, Donnerstag und Freitag in meinem mit Stahltüren gesicherten Zimmer essen will. Eine Dusche gibt es dort übrigens nicht.
Inzwischen wurde der Übersichtsplan im Flur der nuklearmedizinischen Abteilung gegen einen klareren ausgetauscht. In Kürze werde ich also Gelegenheit haben, dessen Effizienz zu testen. Radiopeptidtherapie mit 177Lu DOTATOC heißt der neue Hoffnungsstrick. Und draußen die Wintersonne.

Sonntag, 18. Dezember 2016

Eine Chronik (22)

Zwischendurch tatsächliche Distanz, wenn auch nur räumlich, geografisch sozusagen. Zehn Tage Auszeit in Marokko. Meer, Sonne, Wärme, Lesen, Flanieren, Notieren – Abschalten. So gut es eben geht. Mein Tumor, der unerwünschte Gast, ist mit dabei, macht aber natürlich keinen Urlaub, auch wenn er sich in diesen Tagen diskret zeigt, sich freundlicherweise zurückhält. So wie er sich, seit er sich an meine Fersen geheftet hat, bislang ja eigentlich die meiste Zeit als relativ friedfertig erwiesen hat.
Farid, dem Arganölverkäufer, Abdul, dem Halsabschneider im langen Gewand des Souvenirhändlers, der attraktiven Soukaina, die mit ihrer Mutter und ihrer Tante ein Wochenende im 5-Sterne-Hotel verbringt, Abderrahman, dem Friseur, Amin, dem Wachsoldaten am unter Palmen versteckten Königspalast in Agadir, Hasma, der Managerin der Frauenkooperative in Taghazout, Aziz, dem Golflehrer, Isabelle, der rechten Hand des Hoteldirektors, Karim, dem Berber, Marouane, dem Hilfskellner, Noura, der Oberkellnerin, Hamid, dem Minibusfahrer, Lisbeth, der Mutter der niederländischen Fix-und Foxi-Zwillinge … – ihnen allen brauche ich nicht mit meinem ebenso unsichtbaren wie hartnäckigen Begleiter zu kommen. Sie alle haben eigene Sorgen – Amin etwa wird von Krampfadern und Rückenproblemen vom stundenlangen Herumstehen geplagt –, von denen sie mir auch nichts erzählen. So kommen wir gut miteinander aus, schenken uns gegenseitig ein paar freundliche Worte und sanftes Lächeln. Nur mit dem Drive, dem Putten, dem Swing und dem Bunkerschlag, da tue ich mich noch schwer. Kein Wunder. Nach fünf ersten Übungsstunden war auch Tiger Woods wahrscheinlich nicht der Tiger Woods, zu dem er nach mehreren hunderttausend späteren Schlägen heranreifte.

Eine Chronik (21)

Die Lungen glitzern, die Leber leuchtet! Das wenig erfreuliche Resultat des letzten Pet Scans vor vier Wochen. Die Somatuline-Spritze hat demnach nicht gewirkt, die erste Light-Therapie nicht angeschlagen. Was nun?
Tage später Gespräch mit Dr. K. Sie erklärt die weiteren Alternativen, die nächsten Schritte.
Keine Lust, gleich wieder etwas zu notieren. Schiebe den nächsten Blogeintrag vor mir her, einen ganzen Monat lang. Fühle mich für ein paar Momente gar nicht betroffen, betrachte die Angelegenheit wie ein Außenstehender, völlig neutral und unbeteiligt. Aber die trügerische Distanz ist natürlich nicht von Dauer. Stets kommt die Einsicht, dass „es“ mich tatsächlich etwas angeht, mit Blitzgeschwindigkeit zurück.
Bevor wir nach dem letzten Röhrengeschiebe gegangen waren, hatte ich den Übersichtsplan im Flur der nuklearmedizinischen Abteilung fotografiert. Alles klar?

Donnerstag, 17. November 2016

Eine Chronik (20)

Viel Sport, sagte Dr. K., so viel Sport wie möglich! So bin ich im Kraftraum gelandet. In der „Muckibude“, wie S. das nennt. Offiziell heißt die Einrichtung „Body Factory“, so als könne man sich dort einen Körper nach Maß fabrizieren (lassen).
Doch nach drei Wochen an den Geräten lässt sich bereits sagen, zumindest vermuten: Bei sportlicher Aktivität – Spinning und Stepping, Gewichtheben und Gewichtdrücken, Butterfly und Butterfly reverse ... –  werden Hormone ausgeschüttet, dank derer man sich, sowohl körperlich als auch psychisch, jedenfalls nicht schlechter fühlt, im Gegenteil. Eine willkommene Ergänzung zur monatlichen Spritze.
Und womit man im Gesundheitspark, früher nannte man das Fitnessstudio, nicht noch alles verwöhnt wird: Mineraldrinks in allen erdenklichen Leuchtfarben, still oder sprudelnd, mehr oder weniger süß, sowie Obst, Gebäck ... Und im Anschluss an das ganze Training für Bauch, Beine, Rücken, Schultern, Nacken, Arme – eine herrliche Dusche, ein leckerer Espresso, falls gewünscht.
Hätte nie gedacht, mich jemals in einer solchen Einrichtung wiederzufinden. Und dass das Keuchen und Schwitzen zudem noch Spaß macht. Aber so ist es: Die Krankheit, der Tumor schenkt einem, bei aller Unerfreulichkeit, eben auch neue Erfahrungen, neue Geschichten, die erzählt werden wollen.

Mittwoch, 16. November 2016

Eine Chronik (19)

Ach, diese Schwestern! Wunderbar, bewunderbar. Wie Feen schweben sie durch Praxis und Behandlungszimmer. In schicke, marineblaue Blusen, blütenrein weiße Hosen gekleidet. Rollschränkchen vor sich her schiebend, mit von beiden Unterarmen hängenden Plasmakonserven, mit Patientenakten unter die Achseln geklemmt, immer unter Druck, aber stets auch zu einem Lächeln bereit, mit einem freundlichen Wort auf den Lippen.     
Plötzlich piepsen drei Wecker gleichzeitig. Backt ihr hier Plätzchen, oder was?, fragt eine der bleichsten Kranken, die sonst immer nur reglos an ihrem Tropf hängt und still vor sich hin leidet.
Anfang des Monats also die achte Hormonspritze gegen den Tumor und seine Gesellen, in die rechte Hüfte. Gleichzeitig Grippeimpfung, links in den Hintern. Und auch nochmal Blutabzapfen.
Apropos: Wie waren denn meine Laborwerte beim letzten Mal, vor einem Monat?, will ich wissen. Schwester U. schaut im Computer nach. Leber, Niere, Schilddrüse – alles bestens, verrät sie. Aber ich muss Ihnen heute noch einmal ein paar Tropfen abnehmen, weil Sie in zwei Wochen ja den Termin in der Uniklinik haben.
Genau, sieben Monate später: der nächste Schub durch die Röhre, der nächste PET-CT. Dann wird sich zeigen, was sich wie und wohin entwickelt hat. Richtig freuen tut man sich ja nicht auf dieses Rendezvous mit dem engen Maschinenschlauch. Andererseits ..., ein bisschen mehr Gewissheit, Klarheit ist auch nicht übel.
Zumindest die Blutanalyse von gestern macht Hoffnung. Sämtliche Werte sind vorbildlich, sagte Schwester U., nachdem die Behälter mit den bunten Verschlüssen im Nebenzimmer unter der Lupe waren.

Freitag, 14. Oktober 2016

Eine Chronik (18)

Der Tag, an dem ich so weit weg war wie nie zuvor. Weg von zuhause. Weg von allem und allen Bekannten. Von dort, wo in diesem Moment niemand wusste, wo ich war, was ich so weit weg tat, in der Ferne zu tun, zu suchen hatte. Nämlich nichts. Ich wollte einfach nur am Ufer des Pazifik stehen, einmal in westliche Richtung schauen, links um die halbe Erdkugel herum, bis nach Hause.   
Bald dreißig Jahre her. Dass ich irgendwo am Long Beach über das Meer schaute. Oder war das am Ufer der Bucht von Santa Monica gewesen? Der Blick über den grauen, vernebelten Pazifischen Ozean.
Innerhalb von dreißig Jahren verschwimmt so manche Erinnerung, verflüssigt sich wie Aquarellfarben im Regen. Aber auf einer Wiese hoch über dem Mississippi saß ich tatsächlich einmal, wenn auch zehn Jahre später, und schaute auf den Fluss hinunter, der sich breit und schwer und träge dahinwälzte.
Einige Male schon gab es diese Situationen, in denen es mir nichts ausgemacht hätte, im nächsten Moment zu sterben (vermutlich rede ich mir das im Nachhinein nur ein). Aber nicht in den USA. In den USA zu sterben, wäre mir schäbig vorgekommen, überflüssig, unter meiner Würde, von der ich nicht weiß, was sie eigentlich bedeutet. Meine Würde?
Spontane Entscheidung, vor knapp einem Monat. Ohne die vorherige Zustimmung der Ärztin einzuholen. An jenem Morgen beschloss ich, seit Tagen beschwerdefrei, keine Schmerztabletten mehr einzunehmen. Und auch auf die magenschonenden Pillen zu verzichten. Abzuwarten, was passieren würde. Nichts ist seither passiert. Die stechenden Schmerzen sind nicht wiedergekommen. Nur manchmal ein leichter Druck im Rücken, ein bescheidenes Ziehen unter dem linken Arm. Mehr nicht. So dass ich derzeit – außer der monatlichen Spritze natürlich – komplett auf Medikamente verzichte. 
Geht es mir zu gut?

Dienstag, 11. Oktober 2016

Eine Chronik (17)

Siebte Spritze. Im Therapiezimmer wimmelt es. Junge und Alte, Männer und Frauen. Manch Blasser mit dunklen Augenringen, ab und zu eine Rotwangige, die zufrieden lächelt. Einige strotzen sogar vor lauter Daseinsfreude. Ansonsten sowohl schick als auch sportlich bis salopp Gekleidete. Vornehme Damen in heller Bluse neben tätowierten Typen im Muskelshirt. Solche mit Schläuchen in der Nase und rollenden Sauerstoffflaschen vor den Füßen; solche mit Tüchern um den kahlen Kopf und Kompressionsstrümpfen an den Beinen.
Leben!
Inzwischen weiß ich: Je nach Tag und Uhrzeit herrscht mal mehr, mal weniger Betrieb in der onkologischen Praxis. Am hektischsten geht es vormittags zu, am entspanntesten am späteren Nachmittag. Aber nicht immer hat man die Wahl.
Diesmal zum Beispiel. Nach der Spritze steht eine längere Autofahrt ins Ausland an. Und vor der Spritze eine Blutentnahme. Von der ich erst erfahre, als die junge Arzthelferin mit ihrem Wägelchen vorfährt und den Abbinderiemen um meinen Oberarm festzurrt. Ach so!, entfährt es mir. Sie meint nur, alle paar Monate sei es nötig, die Blutwerte zu kontrollieren. Die Frau Doktor wolle das so. Na gut, ich halte still. Zumal die junge Frau ihr Handwerk versteht.
Achtung, jetzt wird’s kalt!, lässt sie mich wissen, bevor sie eine Flüssigkeit in die Ellenbeuge sprayt: Und nun piekst es.
In der Tat, ein paar Mal mit der Zeigefingerkuppe klopfen, dann piekst es. Sofort läuft der rote Saft durch die Kanüle ins Plastikröhrchen. Respekt, Vene getroffen, gleich beim ersten Versuch.
Das klappt nicht immer. Ihre Adern verstecken sich aber gut, unkte einmal eine ärztliche Mitarbeiterin, die es nach dem dritten vergeblichen Versuch dann auch aufgab, zunächst ihre Kollegin hinzu zog und am Ende den Chef höchstpersönlich ran ließ.
Diesmal also funktioniert es gleich beim ersten Mal. Kein einziger Schweißtropfen zeigt sich, weder bei der Dame noch bei mir. Also kann ich getrost weiter meine Spritze mit den Fingern aufwärmen. 5, 20, 25 Minuten lang. Erst dann wird eines der Behandlungszimmer frei und die Blonde, die mir schon mehrfach in die Hüfte gestochen hat, kann endlich zu Werk gehen. Erneutes Kühlspray, kurz abwischen, einmal tief Luft holen, rein in den Speck. Langsam drücken, damit das Serum sich so langsam, so wirksam wie möglich im Körper verteilen kann.
Sie wissen ja: Nicht kratzen, nicht reiben, nicht rumdrücken!
Klar, kenne mich inzwischen doch damit aus. Auch wenn’s manchmal verführerisch juckt. Finger weg! Hemd in die Hose. Nächster Termin in vier Wochen. Am liebsten spät nachmittags. Danke und tschüss.          

Sonntag, 9. Oktober 2016

Eine Chronik (16)

Neulich abends im Bus vom Flughafen Loiu bei Bilbao nach San Sebastián. Es ist bereits dunkel, aber im Inneren des Gefährts noch stickig und warm. Düstere Bilder füllen mir den Kopf. Seit ein paar Tagen durchziehen dumpfe Stiche meinen Brustkorb, den Rücken, die Flanken. Sie scheinen zu wandern, geballt, nicht entzifferbaren Wegweisern folgend.
Zwei Tage zuvor gab es die sechste Spritze. Komplikationslos wie immer. Und auch ein paar finanzielle Dinge in Zusammenhang mit der kostspieligen Therapie scheinen endlich auf dem richtigen Weg zu sein.
Eigentlich müsste ich zuversichtlich sein. Das werde ich dann auch, allmählich. Nur noch wenige Kilometer bis Donostia. Der Regen lässt nach. Vom Busbahnhof bis nach Gros in die Wohnung sind es knapp 20 Minuten zu Fuß. Der Promenadenweg am Urumea-Fluss ist bereits völlig getrocknet; die ersten Blumen in den elegant geschwungenen Kübeln auf dem Eisengeländer sind verdorrt. Hinter der Insel Santa Clara geht gerade die Sonne unter, wortwörtlich oder buchstäblich – wie sagt man? Unaufhaltsam versinkt sie im Meer.
Einen Tag zuvor war noch die Tagung zum Thema „Literatur und Gesundheit“ gewesen. Eigentlich hatte der Moderator vorgesehen, mich als Verfasser des Buches „Der Suppenfisch“ und nicht als Krebspatienten vorzustellen und mich in erster Linie zu dem schmalen Roman über das Leben und Sterben meines Vaters zu befragen. Allenfalls am Rande oder ganz zum Schluss der Veranstaltung könnte man auch auf die Krebsdiagnose zu sprechen kommen. Doch was erwähnt er gleich in seinem allerersten Satz? Meinen Tumor-Blog. Zum Glück reitet er in der Folge nicht ständig darauf herum, ich hätte fürchterliche Rückenschmerzen bekommen, selbst im Sitzen.
Am nächsten Vormittag: Wellen, Brandung, Sonne, Strand, Sand. Gut, dass wir uns unlängst einen Strandstuhl geleistet haben, einen ganz niedrigen, vielfach verstellbar, in dem man bequem liegen, aber vor allem vernünftig sitzen und lesen kann. Zeitung sogar, wenn der Wind nicht zu wild über Zurriola fegt.
In der im Fluggepäck mitgebrachten Süddeutschen steht ein Interview mit Karl Ove Knausgård, in dem er von vier neuen Büchern spricht, die er soeben beendet hat. Ihr Inhalt, so sagt er, fange dort neu an, wo die klassische Erzählung endet. Kurze Texte über den Himmel, eine Toilette, Babys, Kotze; Reflexionen über die Liebe, Autos, das Dazwischen, Orte und Momente, die man nur deshalb nicht schätzt, weil man sie übersieht.  
So kommt man auf Ideen.

Wie wär’s mit kleinen Abhandlungen über Küchenschränke und Wanderschuhe? Mit beiläufigen Geschichten über Teigrollen, Brotmesser oder – was liegt näher im Moment? – Badehosen, Sonnenschirme, Bikinis und Strandstühle? Als „Bagatellen“ könnte man diese Textchen bezeichnen. Als Kleinigkeiten vielleicht, Liebhabereien.    

Montag, 29. August 2016

Eine Chronik (15)

Demnächst: Lesung und Diskussion zum Thema „Literatur und Gesundheit“. Die freundliche Einladung kam noch vor der Diagnose, dem ersten Blogeintrag. So ein Zufall! Aber kein Grund, nachträglich abzusagen. Im Gegenteil. Schreibsucht, Lesesucht, Schreiben als Trost oder Therapie – lauter Aspekte, mit denen sich unter den gegebenen Umständen zu beschäftigen ist.
Ansonsten: Vignetten gezeichnet, Mirabellenmarmelade gekocht, Sommer genossen, Schatten aufgesucht. Und – kleines Wunder! Eine der beiden Rosen – letztjähriges Geschenk von C. und J. M. – vor der Buchenhecke wächst wieder, entwickelt jede Menge Blätter und zaghaft sogar eine Knospe, die in den kommenden Tagen, sofern kein Kälteeinbruch bevorsteht, aufblühen wird. Dabei hatte ich Hortikulturbanause sie bereits aufgegeben, den Wurzelstock schon fast wütend aus der Erde gerissen, die Reste auf den Komposthaufen geworfen und den Freunden eine florale Traueranzeige geschickt. Uff, soeben nochmal gut gegangen ...

Übrigens, die genannte Tagung findet am kommenden 9. September im Centre national de littérature in Mersch statt und dauert von 9:00 bis 17:30. Mit dem Auftritt der Autoren und ihren – hoffentlich kranken wie gesunden, lädierten wie munter fitten, verwirrten und verwirrenden – Texten muss ab 16:00 gerechnet werden. Eintritt frei, Dissens garantiert. 

Freitag, 12. August 2016

Eine Chronik (14)

Es schüttet. Kühler Wind. Vierte und höhere Stockwerke in einem undurchdringlichen Gemisch aus Nebel und Wolken. Ein verregneter Spätnachmittag im August ist demnach der ideale Zeitpunkt für einen Besuch in der onkologischen Praxis. Kaum Betrieb. Leeres Wartezimmer. Weder Kuchen noch Kekse auf dem Empfangstresen. Alle Anwesenden haben gute Laune, trotz Sommerflaute. Oder gerade deswegen.
Fünfte Injektion und übliche Prozedur: Ein gutes Viertelstündchen lang muss ich, in der Küchenecke des Behandlungsraumes hockend, die kühlschrankkalte Spritze mit der milchig trüben Flüssigkeit in der eigenen Hand aufwärmen. Auf den Knien ein Nachrichtenmagazin aus Hamburg, das ich linkshändig durchblättere. Hinter einem Vorhang erzählt eine ältere Frau der medizinischen Assistentin, dass sie seit Tagen mit Reflux, Sodbrennen und Schluckauf zu kämpfen hat, und das vor allem nachts, weshalb sie in letzter Zeit stets müde sei und schlecht gelaunt und ...
Schon ist die Reihe an mir! In dem Nebenzimmerchen darf ich das Hemd aus der Hose ziehen, den Speckreifen freilegen, mich auf dem Schrank abstützen. Einmal tief Luft holen, bitte!, fordert die Dame im dunkelblauen Kittel, neuerdings statt Krankenschwester gerne auch Gesundheitspflegerin genannt, mich auf. Diesen kurzen Moment meiner Konzentration auf das Einatmen nutzt sie, um mir – Achtung! Jetzt tut’s kurz weh! – die Nadel ins Fleisch zu stechen. Das war’s schon? – Ja. – Halb so wild, behaupte ich, einen auf harten Kerl machend.
Aber wieso funktioniert das eigentlich mit dem Luftholen?
Das sei mit dem Pusten auf Wunden bei kleinen Kindern oder dem instinktiven Reiben über verletzte Stellen zwecks Ausschaltung der Schmerzrezeptoren zu vergleichen, erklärt die Dame, während sie mir ganz gemächlich die neue Hormonladung unter die Haut befördert. Funktioniere auch bei Erwachsenen. Habe mit Nervenzellen zu tun, die positive Gefühle auslösen, die schneller seien als das Schmerzgefühl und dieses für Sekundenbruchteile überlagern, also Linderung verschaffen. Oder so ähnlich.
Genau kapiere ich die Erläuterungen nicht. Egal. Hauptsache, der Trick hilft. Und das tut er, verlässlich.
Nach einer halben Stunde: Ende der Sitzung. Nächster Termin in vier Wochen, vormittags um zehn. Tschau, und genießen Sie den Restsommer, empfehle ich den Damen am Empfang. Gequält lächeln sie zurück.
Draußen, auf dem Parkplatz, gießt es nun Kies. Heftige Böen. Egal. Muss noch zum – wie er sich nennt – „Fachhändler für Büro, Schule und Kreatives“. Brauche neue Stifte. Muss weiterschreiben. Weitermachen.  

Dienstag, 9. August 2016

Eine Chronik (13)

Und plötzlich riecht es nach Sonnencreme. Leider nur drei Stunden lang. Aber dafür an zwei, drei Tagen hintereinander. Da kommt fast schon Dankbarkeit auf. 
Die nächsten Sommergäste haben sich angekündigt. Stehe mehrere Stunden am Stück in der Küche, leicht nach vorne gebückt. Lauchzwiebeln schneiden, Möhren raspeln, Kichererbsen mixen, Sesamkörner rösten, Fleisch in mundgerechte Happen würfeln, Tomaten häuten, Wassermelonen durchhauen, wie mit einer Axt.
Am nächsten Morgen heftige Rückenschmerzen, die sich mit Momenten im ganzen Oberkörper ausdehnen. Reflexartige Gedanken: Klopft mal wieder der Tumor an? Fordert er die Aufmerksamkeit, die ihm an angenehmen, beinahe unbeschwerten Sommertagen verwehrt bleibt? Möchte er sich mal wieder in Erinnerung rufen?   
Nein, nach zwei Tagen sind die Schmerzen wieder weg. Es muss sich um eine Art Muskelkater gehandelt haben, eingefangen bei der langwierigen Essenszubereitung, dem Federballspielen mit den Gästen, hoffentlich.
Beim Kirschen- und Aprikosen-Chutney, beim Gazpacho und dem Hummus, bei Guacamole und Pfundstopf kommen die Erinnerungen dann doch, zwangsläufig. An die Krankenhausnahrung vor ein paar Monaten – die Speisen habe ich fotografiert, die Zettel mit ihrer Beschreibung aufbewahrt. Das „Seelachsfilet Crispy mit Remoulade“ werde ich so bald nicht vergessen, genauso wenig wie „das Pußta-Rindergulasch“.
Mittlerweile habe ich mehr als anderthalb Dutzend Tausender für die Tumortherapie vorgestreckt. Mit der Rückzahlung lässt die Krankenkasse sich Zeit, viel Zeit. Zwischendurch kommen regelmäßig Nachfragen, Aufforderungen, Weigerungen. Nein, eigentlich passiert in diesen Urlaubswochen gar nichts. Nur der ungebetene Gast bleibt hartnäckig.  

Dienstag, 19. Juli 2016

Eine Chronik (12)

Lecker Kekse! Liegen auf einem Teller an der Rezeption. Kekse, mit heller und dunkler Schokoglasur, aparten Verzierungen aus der Spritztüte. Gleich daneben, an einer Pinnwand und ebenfalls auf der Empfangstheke: Plakate über psychoonkologische Betreuung und Trauerbegleitung. Später, im Wartesaal, liegen noch mehr Informationen über Hilfestellung beim Thema Haarausfall und Prospekte zur Begleitung von Hospizgästen (nun ja, „Gästen“) und Angehörigen aus.
Lasse die Finger davon, sowohl von den Keksen als auch von den Faltblättern und Broschüren. Ohnehin ruft Frau Dr. K. bald zur Besprechung: Wie geht’s? Wie vertragen Sie Ihre Medikamente? Ist bereits die nächste Reise geplant?
Dann Ultraschall von Leber, Nieren und Milz. Der weiße Kreis im dunklen Ring ist immer noch da. Scheint allerdings ein paar Millimeter kleiner geworden zu sein. Also so weit alles stabil. Zumindest keine neuen Metastasen. Aber nach drei, vier Monaten kann man von dieser sanften Therapie auch keine Wunder erwarten, sagt die Ärztin.
Wer tut das? Wunder erwarten. Man darf schon froh sein, wenn’s nicht schlimmer wird. Wenn der ungebetene Gast sich nicht auf seine unflätige Weise weiter ausbreitet und immer mehr Platz in Anspruch nimmt, im Körper und im Kopf, den Gedanken und Gefühlen.
Dafür macht der Husten in den letzten Tagen, der Schleim auf der Brust, ein bisschen Sorgen. Man achtet ja auf Winzigkeiten. Auch wenn’s nur eine einfache Erkältung ist.
Ob der Auswurf von weißer oder von anderer Farbe sei?, will Dr. K. wissen. Muss ich in Zukunft wohl genauer hinschauen. Aber gehustet hab ich auch bereits vor der Diagnose. Vielleicht war der unverschämte Gast damals schon da, nur wusste das niemand. Hielt sich noch zurück, wollte nicht weiter auffallen, keinen Verdacht erwecken. Bis der Tag kam, an dem er sich zu erkennen gab.
Zum Schluss die vierte Spritze. Das übliche Ritual. Die Assistentin mit den Einweghandschuhen, die meinen Hüftspeck abklopft, will wissen, ob ich mir die Fußball-EM angeschaut habe, mit dem Endergebnis zufrieden bin, mit den portugiesischen Europameistern leben kann. Weiterleben? Meinen kurzen Moment des Nachdenkens nutzt sie, um mir die fette Nadel ins Fleisch zu stoßen.
Nach dem Arztbesuch geht’s in den türkischen Supermarkt. Uns ist der rote Biber ausgegangen. Auch ist kein Sumach, kein Köfte-Gewürz und kein Ras El Hanout mehr da. Toll, tiefgrüne Jalapeños sind gerade im Angebot.
In nächster Zeit werden uns einige Freunde besuchen. Es wird gekocht werden. S. wird Apfelkuchen backen. Köstlich! Und weiche, süße Waffeln. Keine Kekse.   

Donnerstag, 16. Juni 2016

Eine Chronik (11)

Neulich abends erstmals Brot gebacken, indisches Paratha in Form von vier schneckenartig eingerollten Fladen, serviert zu Hähnchen Tikka Masala, nach einem Rezept von Jamie O. S. fuhr sich mehrfach genüsslich mit der Zungenspitze über die Lippen. Gleichzeitig behauptete sie, das sei kein Hähnchen-, sondern Putenfleisch. Dazu gab es Basmati-Reis, dem eine Prise Salz fehlte. Als Dessert wurden musikalische Häppchen von David Sylvian aufgetischt, gefolgt von CocoRosie-Delikatessen und der neuesten Kreation von Mogwai. Als Digestif ein gehöriger Schluck Soberano aus einer dieser handlichen, aber nicht sonderlich appetitlichen Plastikflaschen, die es neuerdings auf Flughäfen in den Dutyfree-Shops zu kaufen gibt. Kurz nach Mitternacht donnerte es einmal so kräftig, als würde eine tonnenschwere Mütze Schlaf auf uns niedersinken und auch die muntersten Nachteulen im Nu in einen komaähnlichen, beinahe schon dramatischen Zustand versetzen.
Die Paratha-Fladen waren übrigens nicht dünn genug ausgerollt, so dass der Teig in der Mitte noch ein wenig roh geblieben war. Auch hier fehlte Salz. Demnächst also neuer Versuch. Ende des Kochkurses.
Heute Nachmittag dritte Monatsspritze. Und Blut abzapfen, zur Kontrolle, ob und was sich in den letzten Wochen im Körper eventuell verändert hat. Wie immer: etwas aufgewühlt vor lauter Ungewissheit. Die allgemeine Unbeschwertheit ist wohl dahin, für immer – oder schrieb ich das schon? 

Mittwoch, 8. Juni 2016

Eine Chronik (10)

Das große Wasser, sagt Dr. S., der Hausarzt. Täglich 2,5 Liter, rät die deutsche Gesellschaft für Ernährung. Spült die Nieren, schwemmt den Dreck aus dem Körper. – Und wenn man keinen Durst hat? – Dann muss man sich zum Trinken zwingen. – Und wie geht das? – Indem man sich Rituale zurechtlegt, überall in der Wohnung volle Flaschen verteilt, sich banales Leitungswasser mit einer Zitronenscheibe attraktiver macht. Vor jeder Mahlzeit zwei Gläser, jeweils vor und nach dem Zähneputzen und Händewaschen ein Glas, häufiger Kopfsprünge vom Drei-Meter-Brett.
Gut, ich werde mir Mühe geben, versprochen. Ende der Trinkergeschichte.

Der kleine Notizblock auf dem Nachttisch, daneben der Bleistift. Manche Idee kommt im Schlaf, doch kein Handy kommt ins entsprechende Zimmer. Eher lerne ich die Sätze und dazugehörenden Fetzen im Dämmerzustand auswendig und schreibe sie noch vor dem Frühstück nieder, eher ritze ich sie mir stichwortartig in den Unterarm, eher male ich sie mit S.’ Kajal- oder ihrem Lippenstift auf den Spiegel im Bad.

Kleine Liste der in den letzten Wochen gesammelten Ausdrücke und Redewendungen (Auswahl): Gewitterziegen. Sackgesichter und Sackratten. Holla die Waldfee. Oschi. Mit Menschenhaar kann man Tiere vertreiben, Wildschweine zum Beispiel. Oh leck, ist schon neun Uhr! Das kann ja heiter werden. Wenn man bedenkt, was diese Frau einmal für ein Besen war. Aber Hauptsache, das dicke Arschloch ist weg. Und nun: Geh aufs Klo, Blödmann!
So entwickeln sich einzelne Wörter zu Geschichten, manchmal. Und sobald es Geschichten gibt, behauptet Valeria Luiselli in der Geschichte ihrer Zähne, wird es Leute geben, die sie hören wollen.
Verstanden? – Na, da bin ich mir nicht so sicher.  

Schade, aber sämtliche Reisen, die im Frühjahr geplant waren, mussten aus gesundheitlichen Gründen, also krankheitshalber, annulliert werden: der erneute Sprung nach Georgien und Armenien, die Pressefahrt nach Valencia, die mehrwöchige Tour mit Oybek durch Usbekistan. Hatte mir schon ausgemalt, wie viele Wasserflaschen wir auf der Maulbeer-Route mitschleppen müssten, im Mai oder Juni, wenn in Vorderasien bereits Temperaturen um die 40 Grad Celsius herrschen.
Also, lieber Oybek, nicht verzweifeln, bitte. Eines Tages werde ich die Sache mit dem Wasser in den Griff bekommen. Dann sehen wir uns wieder, versprochen. 

Dienstag, 7. Juni 2016

Eine Chronik (9)

In der Uniklinik: Ausländische Patienten haben vor der DOTATOC-PET-CT eine Vorauszahlung von 2.000 Euro zu leisten, in bar. Kreditkarten werden nicht akzeptiert. Doch wer läuft schon mit einer Plastiktüte voller Geldscheine rum? In einem Krankenhaus? Also. Deswegen empfängt im Eingangsbereich des Klinikums eine Filiale der örtlichen Sparkasse die kranken Kunden. Natürlich steht auch ein Bankautomat zur Verfügung. Und nach erfolgter Einzahlung – mit (vor?)gespielter Lässigkeit habe ich meine Hunderter hingeblättert – erhält man von der Hauskasse eine Empfangsbestätigung, auf Wunsch eine zusätzliche Kopie davon.
Inzwischen ist mein privater Aktenordner mit der Aufschrift MEDICO prächtig gefüllt.
Gestern, wie seit ein paar Wochen wieder regelmäßiger, auf dem Hometrainer. 17 km in 30 Minuten. Manchmal ein paar hundert Meter mehr, manchmal weniger. Der Fitnessquotient schwankt zwischen 1,3 und 3,5. Weshalb? Keine Ahnung. Es gibt solche Tage. Und solche. Manche sind euphorisch und wie gedopt, andere träge und niedergeschlagen.
Vertrage auch wieder Alkohol. Seit der ersten Somatuline-Spritze vor einem guten Monat. Ein Jahr lang abstinent, aber zwischendurch immer mal wieder Versuche mit Rotwein, Weißwein, Bier. Am besten waren noch die scharfen Sachen zu verdauen: Brandy, Obstschnaps, Wodka.  
Dr. K. staunt und kann sich ein herzhaftes Lachen nicht verkneifen. Doch auch jetzt gibt es noch Gelegenheiten, bei denen der Alkohol Mulmigkeit im Magen und Kribbeln im Kopf verursacht. Manchmal wird es nach den ersten Schlucken langsam besser. Also nicht gleich passen, ein bisschen Durchhaltevermögen, bitte!
Im Oman, lese ich, hat jede Familie mindestens eine Ziege, weil Skorpione und Schlangen deren Geruch hassen.

Montag, 6. Juni 2016

Eine Chronik (8)

In der Sonne, zum zweiten. Der Flieder ist bereits verblüht, nein: ersoffen. Dafür bohren sich die Gartenstühle beim Platznehmen vier bis fünf Zentimeter in den Rasen. Der leise Hauch von noch leiseren Schmetterlingsflügeln. Jupp, das Eichhörnchen, hüpft über die Wiese, rüber zum Nussbaum. Schon auf der Suche nach Winterproviant? Und wer flattert da so frech in einen Hohlraum unter dem überstehenden Dach, aus dem es auffällig, wenn auch noch sehr zaghaft zwitschert? Herr Amsel oder Mister Star? Egal, unermüdlich und mit immer neuen Würmern im Schnabel sind die Vögel unterwegs. Zwischendurch entsorgen sie ihr verschmutztes Nistmaterial regelmäßig ins Freie und verursachen dabei Kotschlieren an der Fassade.
Im Schatten des halb kaputten Sonnenschirms. Schaue nur selten von der Lektüre auf. „Cooper“, der neue, offiziell erst Ende Juli erscheinende Roman von Eberhard Rathgeb, ist im ersten Teil äußerst spannend. Atemlos wende ich Seite um Seite. Nach der Hälfte, ab Seite 73, gehen die Blicke immer öfter in Richtung unsichtbares Nest. Gleichzeitig nimmt der Roman, der eigentlich eine Novelle ist, nach und nach an Intensität ab. Es scheint, als hätte eine kompakte, stimmige Erzählung künstlich gestreckt werden müssen. Daher die unmotivierten Einschübe zum Ende hin. Oder wird sich die definitive Version noch von meinem Leseexemplar unterscheiden? Irgendwann, kurz vor Schluss, lege ich das Buch zur Seite und beobachte die Vögel bei der Erfüllung ihrer elterlichen Pflichten.
Gelegentlicher Druck hinter den Rippen, linke Flanke. Ein Gefühl nur oder das Resultat vom langen, bewegungslosen Sitzen? Jedenfalls weckt der Druck Erinnerungen. An damals. Nun auch bereits drei Monate her. Fünf Tage im Krankenhaus, ohne das Gefühl, krank zu sein. Umso aufreibender das ständige Zur-Verfügung-stehen, das stundenlange Warten. Aber es musste sein: erhöhte Entzündungswerte nach FDG-PET-CT festgestellt; DOTATOC-PET-Untersuchung; sonografische Kontrolle.
Ungewissheit, Hoffnung, Angst.
Irgendwann, man weiß nie, wann genau, kommt einer der Ärzte und erläutert den letzten Stand der Dinge. Und dass Geduld erforderlich sei, keine vorläufige Diagnose gewagt werden dürfe, am nächsten Tag vermutlich, eventuell, möglicherweise noch einmal Flüssigkeit aus dem Rippenfell gezapft werden müsse.
Kurzer Händedruck. Bis morgen. Gute Nacht.
Gleich darauf klopft das Abendessen an die Tür: 3x Oberländer (hell), 1x GewGurke, 3x Butter, 1x Marmelade, 2x Schnittkä, 2x Weichkä.