Sonntag, 22. Oktober 2017

Eine Chronik (57)


In unserem Wohnzimmer, zwischen Tür und Kamin, steht ein Klavier. Vor dem Klavier steht ein höhenverstellbarer Klavierhocker, das heißt, die rechteckige Version eines Hockers, die auch noch als Pianobank bezeichnet wird, mit samtig sich anfühlendem Sitzpolster. Auf dem Klavier liegt ein Stapel Notenhefte, von Bach über Chopin bis Mozart und zurück. Neben dem Stoß Hefte steht ein Metronom, eines dieser Geräte, die durch akustische Impulse in gleichmäßigen Zeitintervallen ein konstantes Tempo vorgeben. An der Wand hinter dem Klavier hängt ein Bild von Lantz. Unser Freund hat noch nie eine Wüste betreten, aber eine Zeitlang malte er die schönsten Wüstenbilder mit den seltensten Wüstentieren, die man sich vorstellen kann. Hinter der Wand mit dem Wüstenbild kommt die Fassade unseres Hauses, die wegen ihrer exponierten Lage (Wind! Regen! Graupel! Schnee! Sonne! Hitze!) mit Schieferplatten verkleidet ist und die, fragte man sie, ganz andere Geschichten zu erzählen wüsste.
Ich kann mich, ehrlich gesagt, nicht erinnern, wo das Klavier herkommt. Fest steht nur, dass ich es nicht in dieses Haus gebracht habe. Dafür sind meine Arme zu schwach und meine zehn Fingerchen viel zu ungeschickt. Weder das Instrument noch Schemel oder Metronom waren demnach jemals für mich gedacht, und sie sind es bis heute nicht.
Stattdessen habe ich S. im Verdacht, dass sie das Klavier aus ihrer Jugend herüber ins Erwachsenendasein gerettet, aber ihre Ambitionen in Richtung Klavierspielerinnenkarriere längst aufgegeben hat. Ab und zu nimmt sie wohl noch auf dem Hocker Platz und klappt den Deckel hoch, um die 88 Tasten freizulegen. Doch eher sind lange Spielpausen die Regel. Zumal S. derzeit Probleme mit dem kleinen Finger der linken Hand hat. Er fühlt sich meistens taub an, manchmal aber auch schon beinahe wie abgestorben. Dabei hat ihr Klavierspiel ihr schon so manches Kompliment eingebracht, u. a. seitens unseres Malerfreundes Lantz, und immer wieder kommt es vor, dass ein Gast, so unmusikalisch er auch sein mag („Oh, ein Klavier! Ein Klavier!“), sie bittet, uns doch mal etwas vorzuspielen, der versammelten Gesellschaft eine Kostprobe ihres Könnens zu liefern oder, wie derbere Gemüter mitunter fordern, einmal kräftig in die Tasten zu hauen. Meistens kommt S. diesen Bitten und Wünschen nicht nach. Recht hat sie. Auch wenn sie, was durchaus vorkommt, mit einem gewissen Dünkel auf diejenigen herabschaut, die, wie ich, Makkaroni abkriegten, als sie beim Herrgott um Finger anstanden.
Für das Nudelbild bedanke ich mich bei der Tintenfisch-Kolumne in der Neuen Zürcher Zeitung. Es wird auch unserem Freund Lantz gefallen, da bin ich mir ganz sicher.

Samstag, 21. Oktober 2017

Eine Chronik (56)


Diese Tage, an denen sich der ungebetene Gast in eine schattige Ecke des Wohnzimmers verkriecht und ganz ruhig dort hocken bleibt. Diese Tage, an denen das Tier die Schnauze hält und sich selbstmitleidig die Pfoten leckt. Diese Tage, an denen der ständige Begleiter sich kurz verneigt und sich anschließend diskret verzieht, für eine Weile wenigstens. Diese Tage, an denen am frühen Morgen niemand die Zimmertür aufreißt und ekelhaft gut gelaunt in den Raum schreit, dass nun Zeit fürs Temperaturmessen sei, für den Blutdruck, die Herzfrequenz, das Bauchdeckenabtasten, das Kniescheibenbehämmern, die Kopfhautmassage, die Gelenkvibration, das Fußsohlenkitzeln … – nein, ich übertreibe. Soweit würden Krankenschwestern natürlich nie gehen. Und überhaupt, an diesen Tagen sind Behandlungszimmer, Messgeräte und Tropfständer mir so fremd wie die gruseligen Kreaturen an den tiefsten Stellen des Marianengrabens.
Diese Tage also, an denen es Wichtigeres zu tun gibt, als sich die Handlungen und Gedanken vom unerwünschten Begleiter vorschreiben zu lassen. Zumal bald, an diesem Montag, ein nicht ganz bedeutungsloses Rendezvous in meinem Kalender steht: 19:30, CNL in Mersch, Batty Weber-Preisüberreichung. Oder findet die Feier erst am kommenden Mittwoch statt? Der Kulturkolumnistin aus dem Luxemburger Wort ist die Sache mit dem falschen Datum auf den Einladungskarten heute jedenfalls schon eine humorige Glosse und einen gewagten Hollywood-Vergleich wert. Aber wer will in Weinstein-Zeiten schon mit der US-amerikanischen Filmindustrie in Verbindung gebracht werden?
Lese stattdessen ein Interview mit Edna O’Brien, in dem die irische Schriftstellerin mit dem trefflichen Satz „Die Geschichte eines Lebens ist im Körper ebenso enthalten wie im Gehirn“ zitiert wird. Und so werden auch Tage wie diese wieder vergehen und neue darauf warten, gelebt zu werden.

Dienstag, 10. Oktober 2017

Eine Chronik (55)

Gestern war Montag. Die Sonne schien, als wir von zuhause wegfuhren. Kurz nach zwölf sollte mir ein Zugang gelegt werden. Das war nicht einfach, wie nie. Schwester R. gab sich ernsthaft Mühe. Sie haben feine Venen, sagte sie. Leider liegen sie so tief, dass man sie kaum erkennen kann. Beim ersten Versuch im rechten Arm ließ sich die dicke Nadel nicht weit genug einführen. Wenn ich forciere, droht die Gefahr, ein Loch in die Venenwand zu stechen, sagte Schwester R. Der zweite Versuch, im linken Arm, klappte. Ich durfte wieder im Wartebereich Platz nehmen. Zum Glück hatten wir reichlich Zeitungen eingepackt, teilweise schon mehrere Tage alt.

Gegen zwei kam ich in die Röhre. Bitte alle Metallteile ablegen, sagte vorher die junge Angestellte. Tragen Sie ein Gebiss? Ohne Hemd und mit bis unter die Knie herabgelassener Hose lag ich auf dem schmalen Gleittisch, zugedeckt mit zwei Tüchern dünn wie Papier. Jetzt fangen wir an, sagte die Frau. Vierzig Minuten lang schob die Bahre mich hin und her. Tief einatmen, Luft anhalten, jetzt normal weiteratmen, sagte eine Männerstimme vom Band. Erst lagen zwischen ihrem zweiten und ihrem dritten Satz zehn Sekunden, dann zwanzig, schließlich fast eine Minute. So lange konnte ich noch nie tauchen, auch als Kind nicht. Alles in Ordnung?, fragte die Junge über Lautsprecher, bevor sie mir eine Flüssigkeit durch den Zugang in den Körper drückte, von der mir ganz heiß wurde. Hm, brummte ich.

Kurz vor drei darf ich zurück in die Umkleidekabine. Etwas später kommen Frau Dr. K und Univ.-Prof. Dr. med. M. mit den guten Nachrichten. Alles stabil, sagt der Professor mit ernster Miene. Stellenweise haben sich die Metastasen sogar zurückgebildet oder sind gänzlich verschwunden, sagt der Professor nüchtern. Das ist momentan das beste Resultat, das wir uns mit Ihnen zusammen wünschen können, sagt der Professor mit einem Lächeln. Um eine weitere positive Entwicklung Ihrer Situation zu gewährleisten, schlagen wir eine fünfte und sechste Therapiesitzung vor.

Mit Frau Dr. K. werden die nächsten Termine vereinbart. November: zunächst die übliche Nierenszintigraphie, in der Woche danach drei Tage Bunker. Gegen halb vier verlassen wir das Klinikum und fahren ins Stadtzentrum. In einem orientalischen Restaurant essen wir zu Mittag, S. gebackene Aubergine mit Hackfleisch und Tomatensauce, ich Köfte Ekmek. Wir sind so froh. Gegen halb sieben sind wir wieder zuhause. Wir sind so froh, dass uns die Tränen kommen.

 

Sonntag, 8. Oktober 2017

Eine Chronik (54)


Und hier der besagte Text von Charlotte Wirth, in d’Lëtzebuerger Land Nr. 40, 6. Oktober 2017: 
Luxemburgensia: „Muss weiterschreiben, weitermachen“

„Wie verändert die Krankheit den Blick auf sich selbst? Und den der anderen? Und den auf die anderen?“, fragt Georges Hausemer, fast nebensächlich, in einem kurzen Eintrag seines Blogs Ich und mein Tumor. Dabei steht diese Frage nicht nur im Zentrum von Hausemers ganz persönlichen und intimen Aufzeichnungen – Auszüge und Eindrücke seines Lebens nach der Diagnose Krebs –, sondern charakterisiert vielmehr das Genre der Krankheitserzählungen (illness narratives) im Allgemeinen. Ob Paul Kalanithis Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit im Bestseller When breath becomes air oder Nancys philosophische Abhandlung seiner Herztransplantation, L’Intrus: All jene Werke, die sich mit der eigenen Krankheit oder Sterblichkeit befassen, erzählen vom Suchen (und Finden?) der eigenen Identität, die durch die Krankheit radikal in Frage gestellt wird. Wer bin ich, wenn meine Krankheit das vereinnahmt, was mich ausmacht? Ist die Krankheit ein Teil von mir oder ein Eindringling?

Auch in Georges Hausemers Tumorblog werden diese Fragen immer wieder, mal direkter, mal indirekter, gestellt. Zwar macht der Schriftsteller wiederholt deutlich, sein Tumor möge zwar ein Teil seines Lebens sein, dieses sei jedoch nicht auf den Tumor reduzierbar, doch lässt sich die Krankheit nicht ausklammern. Arztbesuche, Blutabnahmen und regelmäßige Spritzen werden zur Routine und Hausemer ein alter Bekannter in der radiologischen Abteilung (dem „Bunker“, wie Hausemer ihn nennt), der nach und nach herausfindet, wie der Krankenhaushase läuft.

Vor allem aber das Sammeln und Aufzeichnen von schier endlosen Werten scheint den Schriftsteller nicht loszulassen: Blutdruck, Kreislauf, Temperatur ... immer wieder wird der Text von solchen Zahlen durchbrochen. Zahlen, die auf die Kluft zwischen Person und Patient hindeuten. Im Krankenhaus zählen weder Persönlichkeit, Lebenserfahrung, noch Interessen. Hier ist man nicht Schriftsteller oder Reisender, hier ist man Patient. Man wird untersucht, gemessen und gibt die Kontrolle über seinen Körper ab. An Ärzte und Schwestern, von denen Symptome und Diagnosen in unverständlichem Kauderwelsch diskutiert werden.

Hausemer selbst versucht sich unterdessen fortwährend von seinem Tumor zu distanzieren. Die Kluft zwischen Georges Hausemer, dem Menschen, dem Schriftsteller, und Georges Hausemer, dem Krebspatienten, besteht demnach nicht nur in der Sphäre des Krankenhauses, sondern zerreißt auch den Autor. So schreibt er von sich in der dritten Person, sobald es um den Krebs geht („der Patient“), wiederholt wie in Trance die zungenverdrehenden Namen von Medikamenten und Diagnosen und zählt lieber auf, was um ihn herum passiert, als in ihm. Oft hat der Leser den Eindruck, dass Hausemer sich auf alles konzentriert, mit Ausnahme seiner Krankheit. Und doch, so weit er auch reist, so sehr er ihr auch zu entkommen versucht, sie holt ihn immer wieder ein. Eine Erkältung wird zum Alarmzeichen, Muskelkater zum düsteren Vorboten. „Kein Tag ohne bange Fragen, sogar die unkomplizierten, die leichteren.“

Inmitten dieser Erfahrungen muss die Frage nach dem eigenen Ich neu gestellt werden. Bei Georges Hausemer geschieht dies auf eine sehr subtile Weise. Sein Weg mit der Krankheit umzugehen ist die der stillen Rebellion, die sich ganz um seine Existenz als Reisender und Schriftsteller, oder reisender Schriftsteller, dreht. „Du kannst mir das Leben schwermachen, doch du kannst mir die Freuden, die mich ausmachen, nicht vermiesen“, scheint er seinem Tumor trotzig entgegenzurufen. In der Tat sind Lesestoff und Notizbuch immer griffbereit – auch im Bunker. Für „ein paar flüchtige Notizen“ ist immer Zeit, zwischen Blutabnahme, CT oder Radiotherapie. „Muss weiterscheiben, weitermachen“, notiert Hausemer. Das Schreiben ist wie ein Anker inmitten der fragmentierten Existenz und es scheint nebensächlich, worüber Hausemer schreibt. Sein Blog ist kein Tagebuch, eher eine Aneinanderreihung flüchtiger Eindrücke. Literaturtipps und -kritiken wechseln sich mit Beschreibungen flüchtiger Begegnungen im Klinikaufzug oder Eindrücken von Hausemers letzten Reisen ab. Denn auch das Reisen lässt sich der Autor nicht nehmen. Genauso wenig wie das Verschlingen, Genießen und Zitieren aus literarischen Werken. Schreiben. Reisen. Menschsein. Das Leben ist zwar ein Leben mit Tumor, besteht aber nicht aus dem Tumor, geht klar aus Ich und mein Tumor hervor. „War in der Oper, las in der Sonne, lag am Strand, habe mich von Kamelen anhauchen lassen, neues Handy bekommen.“ Zwar verändert ihn die Krankheit, und Hausemer zeigt sich erstaunt darüber, wie viele Dinge ihn nicht mehr interessieren, doch das Wesentliche verändert sich nicht. Dem Tumor entgegensehen, „… während ich schreibe – und lese, lebe“, ist Hausemers Credo.

Es drängt sich die Frage auf, für wen, dieser Blog? Wenn es eine Schreibübung zur Verarbeitung der Diagnose ist, wieso dann in Blogform? Wieso öffentlich? Klar ist, diese Art des Schreibens kommt dem Autor zugute, ist die Aufzeichnung von Impressionen und Eindrücken doch eine Stärke des Schriftstellers. Das Schreiben über die eigene Krankheit ist indes ein mutiger Schritt, insbesondere in einer Gesellschaft, in der Krankheit und Sterben marginalisiert und wenig thematisiert werden. Die eigenen Erfahrungen zu teilen, kann nicht nur anderen Mut machen, sondern zeigt auch, dass man damit nicht allein ist. Wichtig ist in diesem Kontext, dass Hausemer kein „triumph narrative“ vorlegt. Es geht nicht darum zu zeigen, wie man die Krankheit besiegt, genauso wenig, wie es darum geht, sich selbst zu bemitleiden. Es geht vielmehr darum, zu vermitteln, dass das Kranksein zum Leben dazugehört. Ich und mein Tumor, ich mit meinem Tumor, Ich trotz meines Tumors, so die Nachricht an die Leser.

Georges Hausemer: Ich und mein Tumor: http://ghausemer.blogspot.com/

Samstag, 7. Oktober 2017

Eine Chronik (53)


Oha! Es gibt ein neues journalistisches Genre im Großherzogtum zu begrüßen, Abteilung Luxemburgensia: die Blogkritik. Meines Wissens wurden einheimische Blogger und die Beiträge auf ihren Webseiten bislang nicht in den Feuilletonspalten der Medien besprochen und in solchem Umfang gewürdigt. Seit diesem Wochenende und Charlotte Wirths Rezension dieses Tumor-Blogs im Lëtzebuerger Land hat sich das geändert. Doch auch im Ausland scheint die neue Kategorie noch nicht allzu weit verbreitet zu sein. Gibt man in einer der bekannten Suchmaschinen den Begriff „Blogkritiken“ ein, so erhält man ausschließlich Ergebnisse für „Buchkritiken“. Bekanntlich ist ein Blog aber noch lange kein Buch und die meisten Blogs werden – zum Glück – auch nie Bücher werden.

Als ich die Besprechung las, kam mir die Nähe von Tumor zu Humor in den Sinn. Für diese etwas abwegige Assoziation bietet Wirths Text nicht den geringsten Anlass. Stattdessen liefert er, meinem Empfinden nach, eine empathische Einschätzung seines Gegenstands, trifft den richtigen Ton und wird sowohl dem Ernst der Lage als auch der Ungleichartigkeit seines Themas vollauf gerecht.

Ich habe mich, zugegebenermaßen, über den Zeitungstext gefreut. Doch kaum war ich mit seiner Lektüre fertig, kam mir, wie häufiger in den letzten Tagen, der kommende Montag in den Sinn: nächster Krankenhaustermin, nächster PET Scan, nächste Spritzen und Infusionen. Für Montagabend nehmen wir uns einstweilen nichts vor, je nachdem, wie die Resultate ausfallen werden. Falls dann überhaupt Resultate vorliegen, auf die Schnelle.

Und irgendwann muss ich, nach mehrwöchiger Unterbrechung, ja auch mal wieder ausführlicher über den Anderen, den ungebetenen Gast, das Tier in mir berichten …