Donnerstag, 24. August 2017

Eine Chronik (52)


Kein Zweifel, die Fledermaus wohnt bei uns. Aber wir wissen nicht, wo. Wir können nicht einmal sagen, ob es nur eine ist, oder zwei, oder gleich eine ganze Familie. Jeden Abend, kurz vor der Dämmerung, sehen wir sie am großen Wohnzimmerfenster vorbeifliegen, rasend schnell, von links nach rechts und zurück und sogar von oben nach unten, von unten nach oben.

Natürlich sind wir gegen die Domestizierung wilder Tiere. Doch wir schätzen ihre Gegenwart. Es tut uns sogar ein bisschen leid für all die Insekten, die sich die Fledermaus im Fluge schnappt, blitzschnell. Dabei, sagt man, verfügen Fledermäuse, die eigentlich Flattermäuse heißen müssten, über keine außerordentlichen Sehkräfte, sondern über ein Echoortungssystem und verwenden den Ultraschall, um sich in der Dunkelheit zu orientieren.

Bald wird es Herbst. Dann denken die Fledermäuse über den idealen Ort für ihren Winterschlaf nach. Aber noch ist es Sommer, und heute kein Tag für kleine Fische. Heute werde ich den Frosch am kleinen Teich besuchen, der aus nichts als einem großen Eimer aus schwarzem Hartgummi besteht, aber von einem Metallfrosch bewacht wird. Mehrmals schon haben wir den richtigen Frosch dabei überrascht, wie er sich vor, neben, einmal sogar auf seinen leblosen Artgenossen hockt und diesen verliebt anschaut, stundenlang, ohne sich zu rühren.

Die Frage nun lautet: Können auch Frösche mit der Wimper zucken? Und wie reagieren sie, wenn ihre Gefühle nie, nie, nie erwidert werden?  

Dienstag, 22. August 2017

Eine Chronik (51)


Es war eine der Begegnungen, die mich als Kind am meisten verfolgten. Wir, die Eltern und ich, hatten, gar nicht so weit von unserem Wohnort entfernt, ein Benediktinerinnenkloster besucht, in dem eine Tante – oder war es eine Cousine – meines Vaters als Nonne lebte. In einer Abtei der ewigen Anbetung.
Wir meldeten uns am Eingang an und wurden in ein Zimmer mit vier weißen Wänden, einem kleinen Tisch und einer einfachen Holzbank geführt, in dem es eiskalt war und wo wir eine Weile warten mussten. Erst während des Wartens fiel mir auf, dass man in eine der blanken Wände eine Art Fenster eingelassen hatte, das mit zwei Klappläden, ebenfalls aus Holz, verschlossen war.
Nach einiger Zeit ging die Klappe auf, wie ferngesteuert, und dahinter kam ein engmaschiges Gitter zum Vorschein. Zögernd näherten wir uns der dunklen Öffnung, hinter der eine leise Stimme uns begrüßte. Ich war vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Mein Vater stellte mich dem Schatten hinter dem Gitter als seinen Erstgeborenen vor. Ob sie, die Tante oder die Cousine, nun, da sie mich kennen würde, nicht ab und zu für mich und mein Wohlergehen beten könne?
Nun, mehr als ein halbes Jahrhundert später, halte ich ein Schwarzweiß-Foto der mit der Zeit namenlos gewordenen Benediktinerin in den Händen. Darauf zu sehen ist eine junge Frau mit einem runden Gesicht, einer Brille mit rundem Metallgestell und einem dunkel schimmernden Bartflaum an beiden Seiten der Oberlippe. Sie trägt einen weißen Schleier, der ihren runden Kopf einfasst wie ein zu eng geknüpfter Kragen und darüber ein Habit, der ihr über beide Schultern fällt. Sie hält den Kopf leicht schief. Als Schmuck baumelt eine miniaturisierte Monstranz vor ihrer Brust und noch weiter unten, auf dem Bauch, ein gekreuzigter Christus.
Von meiner Mutter habe ich unlängst erfahren, dass unsere Verwandte irgendwann Priorin ihres Klosters wurde. Damals, so sagte meine Mutter, habe die schweigsame und vor allem unsichtbare Nonne versprochen, fortan täglich nicht nur für mich, sondern für uns alle zu beten und für uns da zu sein, wann immer wir ihre Unterstützung benötigen würden.
Inzwischen, so musste ich erfahren, ist die Cousine – oder war es doch die Tante – meines Vaters verstorben. Es ist, soweit ich weiß, nun niemand mehr da, der, mit unmittelbarem Draht zum Himmel, für uns beten kann.

Wo Muskeln sind und Widerstand, ist kein Platz für den Krebs. Darum gehen wir immer noch schön regelmäßig ins Fitnessstudio, mein Tumor und ich. Er sträubt sich, natürlich, er will nicht bekämpft werden, nicht verdrängt, an der Gurgel gepackt und kräftig durcheinandergewirbelt werden, der alte Schlappschwanz. Aber ich kann, beim besten Willen, keine Rücksicht darauf nehmen, was mein Tumor so für Vorstellungen hat. Ja, ich wäre froh, wenn ich mal ohne seine ständige Begleitung unterwegs sein könnte. Darauf arbeite ich hin. Auch wenn niemand mehr für mich betet.

Sonntag, 20. August 2017

Eine Chronik (50)


Das Denken einstellen. Geht nicht. Die Hitze auf Sparflamme herunterdrehen. Geht manchmal, aber nicht wirklich. Dann springt, zum Glück, der tröstende Alltag dich an und im Nu hast du anderes im Sinn, während du auf der Wiese sitzt, unter dem Sonnenschirm, und es ganz allmählich zu tröpfeln beginnt. Rasen mähen zum Beispiel, Unkraut jäten, Mulch auftragen, welke Rosenblüten abzibbeln. Doch sogar bei der Gartenarbeit denkst du an das, woran du einmal für fünf Minuten nicht denken wolltest.

Nun stehen – endlich wieder – ein paar offene Tage an, leere Tage, die ebenfalls gefüllt sein wollen. Doch mit keinerlei Erwartungen verbunden sind, keine Forderungen stellen, keine Wünsche äußern, einfach kommen, gespannt darauf warten, wie mit ihnen umgegangen werden wird, und genauso einfach wieder gehen. An wem liegt es, am Ende? Worauf kommt es an?

Die Nachbarn zur Linken werden mir ihre Geschichten erzählen. Ich werde genau zuhören und mir alles merken. Während der Nachbar zur Rechten mit seinem lärmenden Aufsitzer unterwegs ist und alles klein macht, was ihm unter die Räder kommt.

Donnerstag, 17. August 2017

Eine Chronik (49)


Auch solche Tage gibt es, sogar mitten im herrlichsten Sommer. Schon in der Nacht, noch muht nirgendwo die frühe Kuh, setzen die Beschwerden ein. Eine Kehle, die sich wie verklebt anfühlt, Druck auf den Nieren, Stiche in der Rippenfellregion, jedes Schlucken kostet Kraft. Unruhige Minuten, die sich wie Stunden anfühlen. Eine Matratze, der Beulen wachsen. Ein Laken voller Schründe, Spalten, Schlitze, Risse und Furchen.
Kein Tag ohne bange Fragen, sogar die unkomplizierten, die leichteren. Gleich nach dem Aufwachen: die Scheu vor der ersten Bewegung. Das erste bewusste Atmen. Die mit halboffenem Mund eingesogene Luft, die sich von selbst ihren Weg durch den Körper sucht. Worauf wird sie stoßen. Was wird sie auslösen. Wie werden die einzelnen Organe reagieren. Wird der Krebs die Flucht ergreifen und sich in Sicherheit zu bringen versuchen. Wird er dem eindringenden Sauerstoff in die Quere kommen.
In den schweren Momenten kann, muss ich mir vorstellen, eines Tages zu ersticken, einfach so, von einem Moment auf den andern, völlig unerwartet. Das dauert nicht lange, hoffentlich.