Montag, 23. Mai 2016

Eine Chronik (7)

Vorgestern in der Sonne. Rasen gemäht, Unkraut gejätet, totes Rosengehölz weggeknipst, Nägel gefeilt, Haare geschnitten. Nach zwei Stunden kam kühler Wind auf. Auch stand die Dusche an. Wie früher, als Kinder, das samstägliche Bad. Wie noch früher, als Kleinkinder, in der Zinkwanne, die auf dem Küchentisch stand und nach und nach mit dem zu ohrenbetäubendem Pfeifen fähigen Kessel und dem auf dem Gasherd erhitzten Wasser aufgefüllt wurde. Die Seife stammte, vermutlich, aus Marseille. Der Schwamm war irgendwo in der Natur gewachsen. Für die ganz zähen Stellen gab’s Bimsstein.
Gestern langer Spaziergang, weitläufig um den Fußballplatz herum. Die Anfeuerungsrufe der wenigen Zuschauer verhallten in der freien Natur, ebenso die Schmerzensschreie der gefoulten Spieler. Ständig im Ohr war nur der Wind, und an einer unbestimmten Stelle im Kopf das unentwegte Lauern und Belauschen des Körpers: Druck auf den Rippen? Spürbare Wirkungen der zweiten Spritze? Ein Ziehen in der Leber? Ein Wackler in den Knochen?
Heute die Anfrage von RTL, ob mein Tumor und ich nicht demnächst im Fernsehen sowie im Radio auftreten möchten. Wir haben abgelehnt. 

Samstag, 21. Mai 2016

Eine Chronik (6)

Statt 60 diesmal 90 g Lanreotid. Beim nächsten Mal werden es 120 sein. Und bei dieser Dosis soll es dann erst einmal bleiben, in den folgenden Monaten.
Erneut kommt der Wirkstoff aus dem Kühlschrank. Muss die Spritze ein Viertelstündchen lang umklammern und in der eigenen Hand aufwärmen. (Könnte das eigentlich auch jemand anderes für mich tun? Oder muss jeder Patient sein Medikament notwendigerweise selbst auf seine eigene Körpertemperatur bringen?)
Doch was injizieren sie einem da überhaupt in den Hüftspeck? Hormone, sagt Dr. K. – Doping also? Zum Glück beteilige ich mich an Fußballspielen inzwischen nur noch sitzend, vom Sofa aus. Oder auf der Tribüne. Und die Kontrolleure mit ihren Medizinköfferchen voller Urinbecherchen und Blutflakons klingeln auch nicht so häufig an unserer Haustür.
Apropos Sport: Laufen, Spazieren, Springen, Schwimmen – das sei, neben der monatlichen Spritze, die beste Krebstherapie überhaupt, sagt Dr. K. Die könne jeder selbst durchführen, das sei praktisch, zudem koste es kein Geld, nur ein wenig Mühe und Selbstdisziplin.
Also los, raus in die Frühlingsfrische. Andererseits kann man auch nicht ständig unterwegs sein. Nach der zweiten Spritze etwa waren S. und ich im Kino, wo die Sonne durch dunkle Ruhrgebietswolken strahlte: „Junges Licht“, nach einem Roman von Ralf Rothmann – einer der wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren, meiner Meinung nach. Lesen Sie zur Einstimmung einfach mal einige seiner Erzählungen und Kurzgeschichten.
Ja, Schreiben und Lesen. Gut, ich gebe es zu, ich habe in letzter Zeit ein paar Bücher im Internet bestellt, statt zum Buchhändler meines Vertrauens zu marschieren. Wer tut das nicht gelegentlich? Ein paar Neuheiten aus Südamerika, von Selva Almada aus Argentinien zum Beispiel, von der Mexikanerin Valeria Luiselli. Aber womit, Himmelherrgott, habe ich es verdient, vom Online-Versandhändler Romane mit Titeln wie „Warme Milch und Kummerkekse“, „Die Rosenschwestern“ oder „Der Duft von Erdbeersaft“ empfohlen zu bekommen? 

Montag, 16. Mai 2016

Eine Chronik (5)

Wir waren verreist, mein Tumor und ich. Ans Wasser, ans Meer, mit Ibuflam 600 und Pantoprazol im leichten Gepäck, mit dem Sommer voraus, dem Winterwetter des späten April im beschlagenen Rückspiegel.  
Am baskischen Muschelstrand versuchten wir, uns aus den Füßen zu gehen; auch mal, voreinander wegzulaufen, abzuhauen, durch den frischen, noch kühlen Sand, die kalte, anfangs nahezu eisige Gischt. Was auch gelang, für ein paar Stunden, manchmal sogar halbtagsweise.
Zur sonstigen Ablenkung lauschten wir im Hafen dem Quietschen der Möwen. In den Bars dem Geschnatter der Gäste. Quer durch die Stadt waren Autos mit französischen Kennzeichen, aber ohne Fahrer unterwegs – sie hingen am Haken der herzlosesten Abschleppwagen, die man sich vorstellen kann. 
Einmal sogar mischten wir uns unter fast zwanzigtausend. Zwei zu eins endete das Spiel. Ein Sieg der Heimmannschaft, bei dem es, wie tags darauf selbst in internationalen Medien zu lesen war, nicht mit rechten Dingen zugegangen sein soll. Aber wo tut es das schon, mit rechten Dingen zugehen? Für die Verlierer, die angeblich geschoben hatten, bedeutete die Niederlage den sicheren Abstieg. Sowie für den einen oder anderen wohl zudem den Verlust des Arbeitsplatzes. Zu welchem Preis? Nun, Beweise liegen bislang nicht vor. Nichts Schlüssiges, nichts Definitives, nichts Handfestes.
Gut, dass wenigstens auf Freunde Verlass war. Wir kurvten umher, mit spanischem Kennzeichen, den Berg hinauf und später wieder hinunter. Auf dem Gipfel warteten bereits die Walfisch- und Feindschiffbeobachter. Bis zur Unsichtbarkeit camoufliert hockten sie auf ihrem Aussichtsfelsen und blickten weit über den Atlantik. Im Westen fast bis nach Bilbao, im Nordosten hoch Richtung Gironde-Mündung, locker über die Sandzungen hinweg, die keck aufs offene Meer hinaus schnalzten.
Zu melden bekamen die perfekt getarnten Wachleute nichts. Auch wir sahen nur Wasser, Wellen, Wolken und zwei, drei Segelboote, die von fern heiklen Papierschiffchen glichen.
Zu spüren war auch nichts. Außer dem Atem, der sich nur langsam beruhigte. Und dem Glück, in der Sonne zu sitzen, an einer Handvoll wilder Minze zu riechen.
Wieder zuhause, muss ich mich um den verrückt spielenden Laptop kümmern, mich bei einigen Leuten melden, die seit längerem schon auf ein Lebenszeichen warten.
In vier Tagen: die zweite Spritze.