Samstag, 9. Juni 2018

Eine Chronik (75)


Zwei Tage später, wie gehabt, die monatliche Spritze. Diesmal ohne zusätzliche Kontrolle der Blutwerte, ohne Gesprächstermin mit der Onkologin. Einfach nur die Spritze. Der dickflüssige, milchige Stoff, der sehr sehr langsam in die Hüfte injiziert wird.
Während sie schräg hinter mir steht und ihre tägliche Arbeit verrichtet, verrät mir die gutgelaunte Asiatin, dass sie in den letzten Tagen ebenfalls krank war. Ein bisschen zumindest, sagt sie. Erkältung?, frage ich zurück. Na ja, erwidert sie, eine Art Erkältung. Ich ahne, dass sie nicht über das sprechen möchte, was genau sie hatte. Vielleicht schummelt sie und hatte in Wahrheit gar nichts, will aber, dass ich mich besser fühle, wenn ich erfahre, dass sogar Krankenschwestern und anderes Pflegepersonal manchmal krank werden.
Dabei fühle ich mich gar nicht schlecht. Und dass ich bei weitem nicht der einzige Kranke bin und andere viel schlimmer dran sind, weiß ich spätestens, seit ich in der hämatologisch-onkologischen Praxis in W. ein und aus gehe.
Nach einer halben Stunde ist alles vorbei. Draußen scheint die Sonne. Wir haben Hunger. Da S. heute Geburtstag hat, beschließen wir, nicht sofort an unsere Schreibtische zurückzukehren, sondern eine Kleinigkeit essen zu gehen. Wir landen im lauschigen Laubengarten des türkischen Restaurants, das wir schon häufiger nach Arztterminen aufgesucht haben. Köfte, Salat, Reis, überbackene Aubergine, dazu alkoholfreies Bier im Schatten.
Wein vertrage ich seit drei Jahren nur noch in Spanien und auf Reisen. Seltsam. Etwas Psychosomatisches? Wir verstehen es nicht. Auch Frau Dr. K., der wir von dem sonderbaren Phänomen erzählt haben, kann es sich nicht erklären. Zum Glück munden alkoholfreie Biere und Sekte inzwischen fast so gut wie die richtigen. Nur nullprozentigen Rotwein kann man nicht saufen. Schmeckt wie gekippter Traubensaft. Wie verdünnte Buttermilch, die zu lange in der Sonne stand.    

Dienstag, 5. Juni 2018

Eine Chronik (74)


Seit ein paar Tagen zurück aus Donostia. Es waren etliche eher unerfreuliche Tage dabei, in den gut zwei Wochen, diesmal: der fast schon übliche Wohnungsärger, die Folgen der weiterhin heranschwappenden Tourismuswellen, die rauer werdenden Sitten und zunehmend unerfreulichen Gebräuche der Einheimischen, auch im Umgang mit den ausländischen Gästen. Selbst das Wetter am Atlantik war diesmal nicht recht in Form. Genauso wenig wie der wiederkehrende Besucher, dem öfter die Kräfte schwanden, gelegentlich die Energie abhandenkam, der sich zuweilen aufraffen musste, um bei Sturm, Regen und Kälte seine vier Wände zu verlassen, und sei es nur, um sich eine Tageszeitung zu besorgen. Und dann bot diese auch noch – häufiger als üblich, wie dem Gast schien – Artikel über allerlei Krankheiten, Sterben und Tod. Gut, die Fußballsaison war so gut wie vorbei, alle Entscheidungen längst gefallen. Die Strandsaison hingegen hatte noch nicht einmal begonnen, nirgendwo auch nur der leiseste Duft nach Sommer, Sand und Sonnencreme.
Das Schlimme am Krebs sei, sagte einer der Interviewpartner der Journalistin, nicht der zu erwartende Tod, auf den schließlich alles Leben hinauslaufe. Nein, das Schlimme am Krebs sei die Ungewissheit, wann und unter welchen Umständen dieser Tod dann schließlich eintrete. Und dass kein Arzt der Welt eine Prognose wagen, niemand dem Patienten ausmalen würde, wie das Endszenario und der Weg dorthin sich möglicherweise gestalten werden, womit zu rechnen, was zu erwarten sei, wie man sich auf das Unausweichliche vorbereiten könne. Das Wort Tod nimmt auch im Krankenhaus, in der ärztlichen Praxis, in den Labors und sonstigen Untersuchungsräumen niemand gerne in den Mund.  


Montag, 4. Juni 2018

Eine Chronik (73)


Der Kugelschreiber in meiner Hand ist ein ganz schlichter, altmodischer. Ein echter, nämlich von der Firma BIC, der sich nicht aufschrauben, dessen Mine sich nicht austauschen – bei den Wörtern Mine und Miene muss ich stets etwas länger überlegen, welches in dem einen oder anderen Zusammenhang das richtige ist –, aber dank eines winzigen Knöpfchens mit einem Klick im Inneren des haarfein geriffelten Plastikgehäuses zum Verschwinden bringen lässt. Nur die Farbe der Tinte, eine Mischung aus Himmelblau und Türkis, ein Ton, in dem man sich neuerdings auch Eiscreme bestellen kann – pitufo, wie es auf Spanisch heißt, also schlumpffarben –, die Farbe der Tinte also wirkt, weil vintage-artig aufgepäppelt, äußerst zeitgemäß. Während das Kügelchen an der Spitze des Schreibgeräts so geschmeidig über das Papier rollt, dass die Gedanken den Bewegungen der Hand fast nicht hinterherkommen.
Und was schreibe ich mit dem BIC, der mir plötzlich, ich weiß nicht, woher und wieso, in die Finger geraten ist?