Samstag, 29. Juli 2017

Eine Chronik (48)


Manchmal frage ich mich, ob es bereits Dinge gibt, die ich nie wieder sehen, nie wieder tun, nie wieder erleben werde. Aber was, bitteschön, soll das sein? Ich habe sowieso nicht vor, mich jemals (wieder) von hinten auf einen Alligator zu werfen, ihm mit beiden Händen sein furchterregendes Maul zuzuhalten und mich so lange mit ihm im Schlamm zu wälzen, bis ihm die Kraft ausgeht und ich mich als Sieger des ungleichen Überlebenskampfes in Pose werfen kann. Dann schiebt sich allmählich der Schatten der Birken heran, ich rücke Tisch und Stuhl weiter nach links, wo er noch nicht hinfällt. Doch es ist bloß eine Frage von Minuten. Oder ob ich mich dazu aufraffen kann, mir die Gartenerde vom Körper zu waschen, eine lange Hose anzuziehen und mir ein langärmeliges Hemd überzustreifen. Schleimende Nacktschnecken sind im Moment, Gott sei Dank, keine unterwegs. Umso ungeduldiger warte ich auf den nächsten unerwarteten Zwischenfall, nein, ein kleine Beiläufigkeit macht mich auch schon froh. Allein die Vorstellung, dass mir zu banalen Gegenständen wie Küchenschränken, Wanderschuhen, Teigrollen, Badehosen, Brotmessern kleine Geschichten einfallen, vielleicht auch nur ein einziger Satz, möglicherweise auch zwei oder drei, wenn ich Glück habe. Wie neulich, als auf einmal ein Strandstuhl mich beschäftigte und mir spontan Bilder in den Sinn kamen, wie auch er, nicht nur die Birken, Schatten wirft, sich in den Sand bohrt, mit allerlei Dingen behängt wird, Gewichte tragen und Hitze ertragen muss, Nässe und Wind, klebrige Armlehnen, wie unzuverlässig der Untergrund ist, auf dem er steht, der Sandstuhl, dass er gerne mal umkippt, davonfliegt, seiner Freiheit entgegen, einfach nur auf und davon. Unverhofft wirft dann eine junge Barbusige, die sich auf einem Badetuch ausgebreitet hat, mit einer Handvoll Sand nach einer Möwe, die sich ihr mit forschen Trippelschritten nähert, ihrer Mütze, ihrem Rucksack, ihrem Nagellack, der Ananasfrisur auf ihrem Kopf.

Apropos Sommer: Wer in diesen Tagen in Urlaub fahren will, sollte vorher noch schnell das Buch „Schrecklich schön und weit und wild. Warum wir reisen und was wir dabei denken“ von Matthias Politycki lesen. Vielleicht möchte er dann doch lieber zuhause bleiben.

Donnerstag, 27. Juli 2017

Eine Chronik (47)


Heute erhielt ich eine E-Mail-Nachricht von Maure Decuevas. Darin heißt es: I’m only like you. I put in my time and perform hard. Understand what sucks? It’s never gotten me something. Aside from underpaid and under appreciated. Now I work smart not difficult. Have a look at what I suggest NOW: There’s perhaps not many openings. Hurry upward. Learn how.

Ich kenne keine Frau namens Maure Decuevas – auch keinen Mann. Selbstverständlich habe ich den mitgeschickten Anhang nicht geöffnet, aus Sicherheitsgründen. Weil immer gesagt wird, man soll Mail-Anhänge von unbekannten Absendern nicht öffnen, wegen Viren und so. Aber interessiert hätte es mich schon. Weil ich mit dem Text der Mail nicht wirklich etwas anfangen kann. Vielleicht ist mein Englisch zu schlecht, vielleicht stehe ich auf dem Schlauch. Aber was will Maure Decuevas mir eigentlich mitteilen? Die – oder der – aus den Höhlen. Mein Gefühl sagt mir, dass ihr – sein – Englisch nicht ganz sattelfest ist. Aber ich kann mich irren. Doch was bedeutet ein Satz wie „Now I work smart not difficult“? „Smart not difficult“ – was soll das sein? Vielleicht sollte ich Maure Decuevas zurückschreiben, auf Luxemburgisch, warum nicht. Möglich, dass ich der Lösung des Rätsels dann näherkomme.

Die Himbeermarmelade ist übrigens ziemlich lecker geworden, während das Johannisbeergelee ziemlich sauer schmeckt. Auch das eine Frage der Übung. Leider sind die Sträucher schon bald abgepflückt, nur die Minze wächst fleißig weiter.

Bevor ich gestern im Internet Blicke in diverse Bücher warf, hatte ich das Wort „Georgettegardinen“ noch nie gelesen.

Dienstag, 25. Juli 2017

Eine Chronik (46)


Vor bald vier Wochen also: 4. Therapiezyklus, Nuklearstation, Etage -2, Zimmer 7, wie schon dreimal zuvor. Draußen hochsommerliche 35 Grad, schon kurz vor neun Uhr morgens. Bevor die übliche Prozedur beginnen kann, muss ich mich bei der Verwaltung anmelden, diverse Einverständniserklärungen unterschreiben, Telefon- und Fernsehkarte lösen. Danach endlich Köfferchen auspacken, mitgebrachtes Kopfkissen auf dem Bett drapieren, Bücher, Zeitungen und Notizhefte auf dem Tisch ausbreiten. Schon kommt Schwester Gabi, gut gelaunt wie immer. Körpertemperatur: 37,5. Blutdruck 131/80. Leicht erhöhter Pulsschlag. Sind Sie aufgeregt?, fragt Schwester Gabi. Ja, vielleicht. Oder es ist die Hitze.
Fragte mich neulich: Wie verändert die Krankheit den Blick auf sich selbst? Und den der anderen? Und den auf die anderen?
Es gibt zu tun, bevor der Tropfständer hereingerollt wird. Diverse Papiere: Essenswünsche ankreuzen, Allergien, regelmäßig eingenommene Medikamente, Brillenträger. Irgendwelche Implantate? Sonstige Fremdlinge im Körper? Und ob! Deswegen bin ich schließlich hier. Danach schleppt sich der restliche Vormittag träge dahin. Einmal schreit eine Frau über den Flur: Bei uns auf dem Land feiert jeden Tag eine Kuh Geburtstag. Lautes Gelächter. Doch erst um 13 Uhr kommt endlich Schwung in die Bude. Venensuche, zuerst vergeblich. Dann wird Dr. N. fündig: rechts in der Armbeuge, links am Handgelenk. Fast erkenne ich Dr. N. nicht wieder. Kann es sein, dass er seit dem letzten Mal etliche Kilos abgenommen hat?
Erneutes Warten. Als die diversen Flüssigkeiten endlich zu tropfen beginnen, überschlagen sich die Blutdruckmessungen förmlich: 15:00 Uhr: 125/90 – 15:45 Uhr: 124/90 – 16:24 Uhr: 139/79 – 17:25 Uhr: 144/96. Und was haben diese Zahlen nun zu bedeuten? Niemand verliert darüber ein Wort.
Es war der längste Tag des Jahres, aber ich hatte nichts davon. Außer dass es draußen so hell war, dass ich lange nach Mitternacht immer noch nicht einschlafen konnte. 


Donnerstag, 20. Juli 2017

Eine Chronik (45)

Eigentlich bin ich dauernd verliebt. Nein, nicht in irgendwen, in irgendwas. In ein Buch beispielsweise – derzeit in „Eine Schachtel Streichhölzer“ von Nicholson Baker, von 2003, also schon ziemlich alt, eine Empfehlung von David Wagner, der in seinen Büchern häufig interessante Bücher anderer Autoren empfiehlt –, in ein Bild, ein Musikstück, einen Film – schon seit einem halben Jahr in „Paterson“, Jim Jarmuschs Verfilmung eines Gedichts von Carlos William Carlos, äh, sorry, von William Carlos Williams, in meine Partnerin natürlich, in Länder – Georgien etwa –, in Serviererinnen und Metzgereifachangestellte, in Städte – Tiflis, was sonst –, in Friseurinnen (meine allerliebste heißt nicht zufällig Susanne), in Fußballmannschaften, in die schöne Schusterin aus Aachen, in medizinische Fachassistentinnen, z. B. die, die mich neulich in die Dosimetrie-Röhre schob und vorher zärtlich ein Polyesterdeckchen über meine nackten Beine ausbreitete, in einen Zeitungsartikel, in meinen Automechaniker, nachdem er den verrücktspielenden Bordcomputer wieder zur Vernunft gebracht hat, in die Stimme der Führerin durch das Paradjanov-Museum in der armenischen Hauptstadt Eriwan (in die ich mich damals übrigens auch spontan verliebt hatte, also in die Stadt Eriwan, sowie in die beiden jungen Damen, die in der Hauptpost von Eriwan angestellt waren, aber nichts zu tun hatten und sich stattdessen gegenseitig fotografierten, mit je einem riesigen Hochzeitsstrauß – rosa Rosen! – im Arm; davon habe ich übrigens auch ein Foto gemacht, ich könnte es Ihnen jederzeit zeigen, es ist bloß ein wenig unscharf geworden), in die Sonne, in der ich sitze, während ich dies schreibe, mit der Hand, in einen großen Spiralblock. 
Der letzte Therapiezyklus liegt bereits drei, nein, bald vier Wochen zurück, ich kann mich schon fast nicht mehr daran erinnern, zum Glück habe ich ein paar Wörter darüber in mein giftgelbes Notizbuch gekritzelt, ich will mich gar nicht mehr daran erinnern, nicht jetzt, dabei ging alles gut, die Resultate waren ermutigend, die „stable disease“ ist stabil wie gehabt, die nächste Kontrolluntersuchung steht erst Anfang Oktober an, vor mir ein ganzer Sommer, um mich mit dem Garten, Übersetzungen, Himbeer- und Johannisbeermarmeladen zu beschäftigen, mich regelmäßig in Ralfs Körperfabrik ins Schwitzen zu bringen, die Oktoberrede vorzubereiten, Gäste in kurzen Hosen und lauen Blüschen zu empfangen, die neuen Zeichenstifte aus Alkmaar auszuprobieren, mich in die Unterwäscheverkäuferin aus dem Nachbarort zu verlieben, spanischen Nacktschnecken zu einem kurzen, schmerzlosen Tod zu verhelfen, Manuskripte zu lektorieren, mit der (hoffentlich) nur gespielt knurrenden S. Frauenfußballmatches zu schauen (bisher keine Offenbarung), mit S. schon am frühen Nachmittag unter den Birken Sekt (alkoholfrei!) zu trinken, einen hübschen Zeitungshinweis auf das neue Buch von Tomas Espedal zu lesen: „Schriftsteller zu sein ist kein Ponyhof“ lautet der Untertitel, der des Artikels, nicht der des Buches, das „Biografie, Tagebuch, Briefe“ heißt –seltsamer Titel.      
Andrzej Stasiuk sagte einmal: „Die polnische Sprache dient dazu, die Welt schwärzer zu malen, als sie ist.“ Und eben ist, wie in „Paterson“, ein schwarzweißes Stück Stoff vom Dach gefallen. Oder war es eine vom Hagelschauer erwischte Taube? Morgen früh muss ich zur 14-täglichen Blutabnahme. S. kommt mit, wie fast immer.