Samstag, 30. Dezember 2017

Eine Chronik (64)


Er ist also wieder da. Fünf, alles andere als ereignisarme Wochen später. Fünf Wochen, in denen nur Lesen, Musikhören, ein paar Besuche möglich waren. Fünf Wochen, in denen ihm sechs bis sieben Kilo Körpergewicht verlorengegangen sind, weshalb er in seinem Hosengürtel mit Hammer und spitzem Schraubenzieher ein zusätzliches Loch anbringen musste. Fünf Wochen, in denen an Schreiben nicht zu denken war, am allerwenigstens an den Tagen, da er zwei Spitzen einer Gabel aus Plastik in den Nasenlöchern stecken hatte, die auf einem dünnen, karibikblauen Schlauch saß.
Dann der Versuch, mit der Hand und der zufällig wiedergefundenen alten Füllfeder ein paar Wörter niederzuschreiben. Was misslingt. Doch allein die Geste tut gut, die Bewegung, auch wenn der gewünschte Schwung noch fehlt. Doch auch der wird wiederkommen. Wie – hoffentlich – auch die Muskeln, die sich in den Unterschenkeln und Oberarmen einfach aufgelöst zu haben scheinen, verflüchtigt, weggeschmolzen. Stellenweise sind nur Haut und Knochen übrig, blaue Flecken, rote Pünktchen von den Einstichnadeln, den Spritzversuchen. Er kann gut verstehen, wenn B., die Nachbarin, schreibt, manchmal würde sie sich am liebsten hinter der Heizung verkriechen. Platz wäre jetzt ja genug da, fast. Zu essen braucht er sowieso nicht mehr viel, an manchen Tagen genügen ein paar Tropfen Wasser. Und die richtigen Bücher, die er im ganzen Haus verteilt hat, für den Fall, dass er zufällig irgendwo vorbeikommt, Mattigkeit ihn überwältigt und er sich zum Verschnaufen kurz hinsetzen muss. Lesestoff liegt dann stets parat, sowie ein Bleistift und ein Zettel, für den Fall, dass etwas festgehalten, niedergeschrieben werden muss.
S. macht das alles klaglos mit. Ist nicht selbstverständlich. Muss mich mal in aller Form bei ihr bedanken. Dafür, dass sie sich nie beschwert, alles erträgt, neulich tagelang kreuz und quer durch Agadir unterwegs war, um alle nötigen Formulare zu besorgen, Rechnungen zu bezahlen, Kontakte zu knüpfen, Transfers zu arrangieren, Hindernisse zu beseitigen, Zeitpläne zu koordinieren. Auch daran denke ich immer wieder, wenn ich nachts im Bad stehe, wie in dem Gedicht von Harald Hartung, die Autogeräusche im Hintergrund, weil die Welt sogar um diese Zeit noch unterwegs ist, wie kalt sind die Fliesen, und der Fremde im Spiegel mir rät, ihm doch gefälligst aus dem Weg zu gehen.

Freitag, 29. Dezember 2017

Eine Chronik (63)


Kurz vor Weihnachten. Fünfter Therapiezyklus im Nuklearbunker, diesmal von dienstags bis freitags, also einen Tag länger als bisher. Bevor der erste Blutstropfen fließt, informiere ich die zuständigen Personen über die Vorfälle der letzten vier Wochen. Oberarzt Dr. H. weiß sofort eine Erklärung – und bestätigt die Vermutungen von Dr. W. Infolge des während der Therapie entstehenden „Untergangs“ von Tumorzellen ist es zu einer mehrtägigen erhöhten Ausschüttung von in Tumorzellen gebildeten Hormonen gekommen. Diese geht mit Kreislauf- und Atembeschwerden, Übelkeit, Kopfschmerzen, neurologischen Symptomen sowie der sogenannten Flush-Symptomatik einher … – Genau so steht es in den Patienteninformationen unter dem Zwischentitel „Risiken und mögliche Nebenwirkungen“, die ich nun bereits zum fünften Mal ausgehändigt bekomme, aber bisher immer nur überflogen habe. Nach dem Motto: „Mir wird das alles schon nicht passieren!“ Und überhaupt: Was kann man sich Besseres wünschen als den „Untergang von Tumorzellen“, als die Stable Disease mit teilweise rückläufigen bzw. einzelnen sogar nicht mehr nachweisbaren Tracermehranreicherungen sowie ohne Nachweis einer neu aufgetretenen malignomtypischen Nuklidanreicherung, auf die in der ärztlichen Beurteilung nach dem jüngsten PET-CT hingewiesen wurde?
Das leidigste Problem in diesen Tagen: meine Venen. Entweder sind sie geradewegs unsicht- und unfühlbar oder so fein, dass sich kein Katheter hineinschieben lässt, oder so gewunden, dass jede Nadel sofort an hinderliche Wände stößt. Ist es an der Zeit, mir einen Port implantieren zu lassen, im Hinblick auf künftige Blutentnahmen und Infusionen? Überwiegen die Entzündungsrisiken oder die Vorteile für Patient und Klinikpersonal?
Vor wenigen Tagen ist Lisa Berg, die seit 2015 an Leukämie erkrankte Cellistin, verstorben. Drei Jahre. Da beginnt man auch selbst zu rechnen, falls man es nicht sowieso schon tat, nach Erhalt der eigenen Diagnose, und es immer noch tut, fast täglich, wenn nicht noch häufiger.      

Donnerstag, 28. Dezember 2017

Eine Chronik (62)


Taghazout ist ein herrlicher Flecken. Im Hotel, das wir bereits letztes Jahr besuchten, werden wir fast schon wie Stammgäste umgarnt. Keinerlei Hektik, entspannter Betrieb, wolkenloser Himmel bei idealen Temperaturen um 24 Grad und eine Lektüre, die mich von den ersten Zeilen an tief ins Buch hineinzieht, so dass die rund 500 Seiten einen gar nicht abzuschrecken vermögen, ganz im Gegenteil. Heute, da das Werk ausgelesen ist, kann ich es ja sagen: Der neue Roman (oder sind es Erzählungen, wie die verwackelte Genrebezeichnung auf dem Buchcover ebenfalls suggeriert?) von Nico Helminger, „Kuerz Chronik vum Menn Malkowitsch …“, ist eine Wucht, mein Buch des Jahres 2017, all denjenigen unbedingt zu empfehlen, die etwas über den momentanen Zustand des Landes Luxemburg und der dort lebenden Menschen erfahren wollen, spannend, krude, passagenweise ein bisschen dick aufgetragen, aber stets politisch wunderbar inkorrekt, saftig und kraftvoll erotisch-pornografisch, ambitioniert, augenöffnend, alle literarischen Register der luxemburgischen Sprache ziehend, dennoch süffig zu lesen …
Am vierten Tag in Marokko allerdings die Ernüchterung: dieselben Symptome wie 14 Tage zuvor in Walferdingen. Allergische Reaktion (auf ein am Straßenrand, über offenem, mit Benzin angefachtem Feuer gegrilltes Hähnchen?) mit Erbrechen, Kopf- und Magenschmerzen, Schwellungen und Rötungen, rasende Herzschläge. Am späten Abend holt mich ein Wagen von SOS AMU am Hoteleingang ab. Mit Blaulicht und Sirene geht’s nach Agadir, in die Notaufnahme der Polyclinique Illigh. Ich kann Ihnen, lieber Leser, bestätigen: Marokkanisches Pflegepersonal ist mindestens so eifrig und bemüht wie westeuropäisches, aber die ganzen Maschinen und Apparaturen, die ihm zur Verfügung stehen, sind leider nicht auf dem neuesten Stand. Egal, all die Himas und Aischas, die Ahmeds und Mohammeds schafften es, mich binnen drei Tagen soweit wieder auf die Beine zu bringen, dass ein Jet der Air Rescue auf dem Al Massira-Flughafen landen, mich an Bord nehmen und kompetent nach Hause bringen konnte. Eigene Liege, Decken, Getränke und Essen nach Wunsch – der perfekte Bordservice, das reinste First Class-Erlebnis. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Wochen lande ich in der hauptstädtischen Zithaklinik, man kennt mich dort, auf der Nuklearstation, schon. Auch die Prozedur ist die gleiche wie beim letzten Mal. Tropf an Tropf an Tropf. Und die Idee von Dr. W., dass die Beschwerden vielleicht doch als Nebenwirkungen der Radiopeptidtherapie einzuschätzen sind. Also verschreibt er mir Sandostatin 100-Spritzen, die ich mir von nun an zweimal täglich selbst subkutan verabreichen muss, zwecks Bekämpfung der Überproduktion bestimmter Hormone und ähnlicher körpereigener Stoffe im Magen, welche das natürliche hormonelle Gleichgewicht im Körper stören.
In den Tagen danach: viele Stunden Ruhe, ideal zum Lesen (etwa der wunderbaren Kurzgeschichten von Lucia Berlin), zum Musikhören (in endloser Schleife: Symphony No. 3 von Henryk Górecki) …    

Mittwoch, 27. Dezember 2017

Eine Chronik (61)


Wollte da etwa ein fieses Rieslingspastetchen jemanden definitiv zum Schweigen bringen? So kam es dem Verzehrer besagten Snacks jedenfalls vor, nachdem er gleich am ersten Tag der diesjährigen Büchertage in Walferdingen (ja, gut fünf Wochen, so lange ist das bereits her!) plötzlich übelstes Unwohlsein verspürte. Mit dem Resultat, dass er tags darauf auf der Intensivstation landete, mit Kreislauf- und Atembeschwerden und tomatenrot angeschwollenem Gesicht und ohne Hunger noch Durst in den nächsten fünf Tagen.
Ein einleuchtender Grund für den Kollaps fand sich nicht – Lebensmittelvergiftung, Magenzisten, Herzbeschwerden, mangelhafte Schilddrüsenfunktion? Vermutungen gab es viele –, aber während der langen Stunden an diversen Tröpfen stellte sich ein einigermaßen stabiler Gesundheitszustand allmählich wieder her. So dass der Patient am Ende entlassen werden konnte, zwar nicht geheilt, aber immerhin imstande, auf nicht allzu wackeligem Fuß zu stehen. Und bereit, die schon länger geplante Marokko-Reise Anfang Dezember, trotz Bedenken, aber mit ärztlichem Segen, wohlgemut anzutreten.