Montag, 29. August 2016

Eine Chronik (15)

Demnächst: Lesung und Diskussion zum Thema „Literatur und Gesundheit“. Die freundliche Einladung kam noch vor der Diagnose, dem ersten Blogeintrag. So ein Zufall! Aber kein Grund, nachträglich abzusagen. Im Gegenteil. Schreibsucht, Lesesucht, Schreiben als Trost oder Therapie – lauter Aspekte, mit denen sich unter den gegebenen Umständen zu beschäftigen ist.
Ansonsten: Vignetten gezeichnet, Mirabellenmarmelade gekocht, Sommer genossen, Schatten aufgesucht. Und – kleines Wunder! Eine der beiden Rosen – letztjähriges Geschenk von C. und J. M. – vor der Buchenhecke wächst wieder, entwickelt jede Menge Blätter und zaghaft sogar eine Knospe, die in den kommenden Tagen, sofern kein Kälteeinbruch bevorsteht, aufblühen wird. Dabei hatte ich Hortikulturbanause sie bereits aufgegeben, den Wurzelstock schon fast wütend aus der Erde gerissen, die Reste auf den Komposthaufen geworfen und den Freunden eine florale Traueranzeige geschickt. Uff, soeben nochmal gut gegangen ...

Übrigens, die genannte Tagung findet am kommenden 9. September im Centre national de littérature in Mersch statt und dauert von 9:00 bis 17:30. Mit dem Auftritt der Autoren und ihren – hoffentlich kranken wie gesunden, lädierten wie munter fitten, verwirrten und verwirrenden – Texten muss ab 16:00 gerechnet werden. Eintritt frei, Dissens garantiert. 

Freitag, 12. August 2016

Eine Chronik (14)

Es schüttet. Kühler Wind. Vierte und höhere Stockwerke in einem undurchdringlichen Gemisch aus Nebel und Wolken. Ein verregneter Spätnachmittag im August ist demnach der ideale Zeitpunkt für einen Besuch in der onkologischen Praxis. Kaum Betrieb. Leeres Wartezimmer. Weder Kuchen noch Kekse auf dem Empfangstresen. Alle Anwesenden haben gute Laune, trotz Sommerflaute. Oder gerade deswegen.
Fünfte Injektion und übliche Prozedur: Ein gutes Viertelstündchen lang muss ich, in der Küchenecke des Behandlungsraumes hockend, die kühlschrankkalte Spritze mit der milchig trüben Flüssigkeit in der eigenen Hand aufwärmen. Auf den Knien ein Nachrichtenmagazin aus Hamburg, das ich linkshändig durchblättere. Hinter einem Vorhang erzählt eine ältere Frau der medizinischen Assistentin, dass sie seit Tagen mit Reflux, Sodbrennen und Schluckauf zu kämpfen hat, und das vor allem nachts, weshalb sie in letzter Zeit stets müde sei und schlecht gelaunt und ...
Schon ist die Reihe an mir! In dem Nebenzimmerchen darf ich das Hemd aus der Hose ziehen, den Speckreifen freilegen, mich auf dem Schrank abstützen. Einmal tief Luft holen, bitte!, fordert die Dame im dunkelblauen Kittel, neuerdings statt Krankenschwester gerne auch Gesundheitspflegerin genannt, mich auf. Diesen kurzen Moment meiner Konzentration auf das Einatmen nutzt sie, um mir – Achtung! Jetzt tut’s kurz weh! – die Nadel ins Fleisch zu stechen. Das war’s schon? – Ja. – Halb so wild, behaupte ich, einen auf harten Kerl machend.
Aber wieso funktioniert das eigentlich mit dem Luftholen?
Das sei mit dem Pusten auf Wunden bei kleinen Kindern oder dem instinktiven Reiben über verletzte Stellen zwecks Ausschaltung der Schmerzrezeptoren zu vergleichen, erklärt die Dame, während sie mir ganz gemächlich die neue Hormonladung unter die Haut befördert. Funktioniere auch bei Erwachsenen. Habe mit Nervenzellen zu tun, die positive Gefühle auslösen, die schneller seien als das Schmerzgefühl und dieses für Sekundenbruchteile überlagern, also Linderung verschaffen. Oder so ähnlich.
Genau kapiere ich die Erläuterungen nicht. Egal. Hauptsache, der Trick hilft. Und das tut er, verlässlich.
Nach einer halben Stunde: Ende der Sitzung. Nächster Termin in vier Wochen, vormittags um zehn. Tschau, und genießen Sie den Restsommer, empfehle ich den Damen am Empfang. Gequält lächeln sie zurück.
Draußen, auf dem Parkplatz, gießt es nun Kies. Heftige Böen. Egal. Muss noch zum – wie er sich nennt – „Fachhändler für Büro, Schule und Kreatives“. Brauche neue Stifte. Muss weiterschreiben. Weitermachen.  

Dienstag, 9. August 2016

Eine Chronik (13)

Und plötzlich riecht es nach Sonnencreme. Leider nur drei Stunden lang. Aber dafür an zwei, drei Tagen hintereinander. Da kommt fast schon Dankbarkeit auf. 
Die nächsten Sommergäste haben sich angekündigt. Stehe mehrere Stunden am Stück in der Küche, leicht nach vorne gebückt. Lauchzwiebeln schneiden, Möhren raspeln, Kichererbsen mixen, Sesamkörner rösten, Fleisch in mundgerechte Happen würfeln, Tomaten häuten, Wassermelonen durchhauen, wie mit einer Axt.
Am nächsten Morgen heftige Rückenschmerzen, die sich mit Momenten im ganzen Oberkörper ausdehnen. Reflexartige Gedanken: Klopft mal wieder der Tumor an? Fordert er die Aufmerksamkeit, die ihm an angenehmen, beinahe unbeschwerten Sommertagen verwehrt bleibt? Möchte er sich mal wieder in Erinnerung rufen?   
Nein, nach zwei Tagen sind die Schmerzen wieder weg. Es muss sich um eine Art Muskelkater gehandelt haben, eingefangen bei der langwierigen Essenszubereitung, dem Federballspielen mit den Gästen, hoffentlich.
Beim Kirschen- und Aprikosen-Chutney, beim Gazpacho und dem Hummus, bei Guacamole und Pfundstopf kommen die Erinnerungen dann doch, zwangsläufig. An die Krankenhausnahrung vor ein paar Monaten – die Speisen habe ich fotografiert, die Zettel mit ihrer Beschreibung aufbewahrt. Das „Seelachsfilet Crispy mit Remoulade“ werde ich so bald nicht vergessen, genauso wenig wie „das Pußta-Rindergulasch“.
Mittlerweile habe ich mehr als anderthalb Dutzend Tausender für die Tumortherapie vorgestreckt. Mit der Rückzahlung lässt die Krankenkasse sich Zeit, viel Zeit. Zwischendurch kommen regelmäßig Nachfragen, Aufforderungen, Weigerungen. Nein, eigentlich passiert in diesen Urlaubswochen gar nichts. Nur der ungebetene Gast bleibt hartnäckig.