Sonntag, 30. April 2017

Eine Chronik (40)


7:10. Schwester Rita schneit mit gleich mehreren Wünschen herein. Sie möchte nicht nur Körpertemperatur (36,4) und Blutdruck messen (126-84-84), sondern auch noch frisches Blut abzapfen, an einer neuen, noch jungfräulichen Stelle in der linken Armbeuge. Trotz meiner inzwischen rundum bekannten Venenschwäche sitzt gleich der erste Nadelstich. Es laufe wie ein frisch gezapftes Bier, scherzt die, die ansonsten zum Lachen eher in den Keller zu gehen scheint.

8:10. Mitten im Frühstück ruft die E.Cam zur nächsten Untersuchung. Oh, welch nette Überraschung! Die junge Blonde ist wieder im Einsatz, heute ohne Ausschnitt, dafür mit einem schicken grobmaschigen Pulli, der verführerisch glitzert. Bevor sie mich mitsamt Tisch unter die Kamera schiebt, breitet sie bedächtig eine hauchdünne Papierdecke über meine Beine und Füße aus.

Gleich anschließend wartet der SPECT-TC. Werde dort von einem holländischen Praktikanten empfangen, der in seiner grünen Schürze aussieht wie der trottelige Fleischer aus der zweiten Staffel der US-amerikanischen Fernsehserie „Fargo“ (unbedingt zu empfehlen!), von dem wir noch nicht wissen, ob er irgendwann einfach dran glauben muss oder vorher noch grausam gequält werden wird. Der angehende Pfleger möchte sich mit mir unterhalten, während wir darauf warten, dass seine ältere Kollegin die erforderlichen Knöpfe drückt. Leider klingt sein Deutsch so niederländisch, dass ich kaum einen seiner Sätze verstehe.

9:30. Endlich kann ich fertig frühstücken. Und erfahre hoffentlich bald, wann ich heute entlassen werde. Muss ja S. anrufen, sie war jetzt zwei Tage in Luxemburg und soll mich auf der Rückfahrt abholen kommen. Damit unser normales Leben weitergehen kann.

11:00. Dr. H., der Oberarzt, kommt mit dem üblichen Briefchen, fragt nach dem Befinden und lädt zum vierten Therapiezyklus in gut acht Wochen ein, vom 21. Juni, Sommeranfang, bis zum 23. Juni, luxemburgischer Nationalfeiertag. Vorherige Untersuchungen werden diesmal nicht nötig sein. Nur etwa alle zwei Wochen soll ich beim Hausarzt die Blut- und Nierenwerte kontrollieren lassen.

SMS an S.: Sie kann kurz nach 12:00 am „Kiss&Drive“ vorfahren. Eigentlich müsste ich noch bis drei im Haus bleiben, sagte Dr. H., „aber wir wollen mal nicht päpstlicher als der Papst sein und Sie unnötig hier festhalten“. Doch verraten soll ich das niemandem. – Nein, keine Sorge, ich werde es nur in einem Nebensatz in meinem Blog erwähnen, ich schwör’s. (Das habe ich natürlich nicht zum Oberarzt gesagt …)

Freitag, 28. April 2017

Eine Chronik (39)


Wäre es nicht langsam an der Zeit, meinem inneren Mitbewohner, meinem neuen Gefährten, dem Tumor einen Namen zu geben? Nun, nachdem wir seit gut einem Jahr miteinander bekannt sind. Nun, ich weiß von ihm. Ob er auch von mir, das hat er, der Scheißkrebs, mir bislang nicht verraten, der Feigling.

Eine Frage, auf die man kommt, wenn man zu viel Esterházy liest, sich zu lange in sein „Bauchspeicheldrüsentagebuch“ verkriecht, wo der Krebs mal als Fräulein vorgestellt, mal wie eine Geliebte gehätschelt, dann wieder verflucht wird, wo der Autor es hemmungslos mit ihr treibt, sie zum Teufel wünscht, sie ihn langweilt, er sie als seine kleine Sonne, als liebes Licht anspricht, als Süße und Teure, die ihn am liebsten verzehren, aufessen, auffressen, ihn sich einverleiben, ihn vernichten würde.

Kleine Biere trinkt man zu Oliven. Doch hier werden einem weder kleine noch große Biere und auch keine Oliven serviert. Hier kommt während der Anwesenheit des Patienten ja nicht einmal jemand zum Sauber- oder sonstigen Machen. Nur gestern sah ich einmal kurz, als die Schiebetür einen Spalt breit offenstand, eine kleine, ältere Türkin mit Kopftuch und Wischmopp über den Flur huschen, grußlos. Kurz darauf klopfte ich mein Bettzeug halt selber auf und zog das Laken glatt.

Auf den Spuren Esterházys ist nun der Moment gekommen, da ich verraten muss, dass verschiedene Leute mir gegenüber in letzter Zeit ziemlich emotional geworden sind. Was ich in den meisten Fällen nicht ausstehen kann. Weshalb ich ja auch diesen Blog verfasse und an die Öffentlichkeit bringe, damit die Krebsstory nicht wieder und wieder von neuem erzählt werden muss, sondern ich mich darauf beschränken kann, einfach die Blog-Adresse durchzugeben und alles Weitere einfach geschehen zu lassen. Sonderfragen können danach immer noch individuell beantwortet werden, falls Bedarf besteht. Und zur Abwechslung könnte ich eine Weile barfuß herumlaufen, nun, da der Frühling … Frühling! Minus fünf Grad nachts, maximal vier Grad am Tag. Ehrlich, ich scheiß auf diesen Frühling, boah ey, echt Mann, Alter!

17:00 Uhr, neueste Messungen: 126-86-84; Körpertemperatur: 36,4. Schwester Rita ist sehr zufrieden.

Anschließend esse ich eine meiner mitgebrachten Mandarinen. Oder zwei. Und ein paar Manner-Schnitten, Original Neapolitaner, in Erinnerung an Herrn Carl Manner aus Wien, den ehemaligen Firmenvorstand und Aufsichtsratsvorsitzenden des Unternehmens, der, wie heute Morgen in der Zeitung zu lesen war, kürzlich mit 87 Jahren verstorben ist, nachdem er immer noch täglich an seinem Schreibtisch gesessen hatte, bis zum letzten Atemzug.

Die Manner-Waffeln kenne ich noch aus meiner Universitätszeit in Salzburg. Sie waren mir gewissermaßen ein studentisches Grundnahrungsmittel. Aber seither hat sich ihr Geschmack, so kommt es mir vor, wesentlich verändert, ja, verschlechtert. Früher schmeckten sie besonders, unvergleichlich, heute haben sie sich dem Geschmack vieler vergleichbarer Knuspereien angepasst. Nur die rosa Verpackung ist geblieben und löst nostalgische Gefühle aus.   

Mittwoch, 26. April 2017

Eine Chronik (38)

Wo sind eigentlich die typischen Krankenhausgerüche von früher hin? War das Chlor? Irgendein Reinigungs-, ein Narkosemittel?

Erste Zahlen am Morgen kurz nach sieben: 142-85-95.

Noch während ich frühstücke, tritt unerwartet der Klinikdirektor, Dr. M., ins Zimmer. Es ist hier nicht üblich, einander mit Handschlag zu begrüßen, wegen, nehme ich mal an, Ansteckungsgefahr oder so. Er wiederholt, was gestern Dr. H. bereits berichtete: Es gibt keine neuen Infektionsherde, das Wachstum der kranken Zellen ist einstweilen gebremst, der englische Fachbegriff für die derzeitige Situation lautet: „stable disease“.

Kaum ist der Doktor wieder gegangen, werde ich zur nächsten Szintigrafie gerufen. Aber ich muss doch noch Zähne putzen, Hose, Hemd und Schuhe anziehen! Ich laufe doch nicht ungewaschen im Pyjama auf den Klinikfluren herum … Gut, sagt Schwester Rita, dann hole ich Sie erst in einer Viertelstunde ab.  

Leider hat die hübsche Blonde mit dem orangenen T-Shirt und dem kecken Dekolletee, die mir beim letzten Mal so zärtlich die Hemdsärmel hochkrempelte, als ich vor ihr auf dem Schiebetisch der E.Camera lag, heute keinen Dienst. Osterferien? Nun, ihre dunkelhaarige Kollegin ist auch sehr nett und holt mich nach 15 Minuten bereits wieder aus der Röhre.

Zurück aufs Zimmer. Ob ich noch einen frischen Kaffee möchte, fragt Schwester Rita. Warum nicht, der Tag ist noch lang und momentan sind für heute keine weiteren Untersuchungen vorgesehen. Zeit zum Lesen, Schreiben, Ausruhen, was leicht fällt mit der aktuellen Diagnose. „Stable disease“ klingt gar nicht so erschreckend, ja, geradezu ermutigend unter den gegebenen Umständen.

Bedauerlicherweise musste ich die für heute geplante Lesung in B. kurzfristig absagen. Hatte schon so etwas geahnt, obwohl die Therapietermine stets ein paar Wochen im Voraus festgelegt werden. Aber ein verändertes Blutbild, schwächelnde Nieren können jederzeit dafür sorgen, dass das ursprüngliche Programm über den Haufen geworfen werden muss. Statt am Abend vor Publikum zu sitzen und, wie angedacht, die tierische Titelgeschichte aus dem neuen Buch vorzulesen, werde ich um diese Zeit auf einem unbequemen Stuhl hocken, Nachrichten und anschließend ein Europa League-Spiel anschauen. Gelesen und geschrieben habe ich bereits den ganzen langen Tag über, hinter geschlossenem Fenster, ohne frischen Sauerstoff, so dass mir der Kopf nun leer und dumpf vorkommt.

Montag, 24. April 2017

Eine Chronik (37)


Heute kein Mittagessen. Schade. Hatte Cordon bleu angekreuzt. Aber das vertrage sich nicht mit den Flüssigkeiten, die mir gleich gespritzt werden, erklärt eine Schwester, mit der ich bisher nie zu tun hatte. Es kann zu Übelkeitsgefühlen und Erbrechen kommen, darauf möchten wir doch lieber verzichten, nicht wahr?

142-85-95.

Werde anschließend, auf dem Bett liegend, an zwei Tropfsäckchen gehängt: Nierenschutzmittel und Cortison. Lese Darvasi und erfreue mich am Nichtstun. Auch das schlaucht. Mmmhh, kein Wunder bei all den Kanülen und Röhrchen, die vom Ständer über diverse Mittelstücke geradewegs in den Körper hineinführen. „Das gute Gift, der lebensspendende Saft“, werde ich später bei Esterházy mit dem Bleistift unterstreichen. Einstweilen bin ich damit beschäftigt, die Flüssigkeitstüten im Auge zu behalten und darauf zu achten, dass das Tröpfeln nicht unterbrochen wird. Die Geschwindigkeit, mit der die Tropfen sich ihren Weg bahnen, kann ich beeinflussen, indem ich den Arm mit dem Zugang mehr oder weniger strecke, ihn ein bisschen anhebe oder ihn weiter nach unten hängen lassen, mich im Bett auf den Rücken oder auf die Seite drehe. Man macht so seine Erfahrungen, sogar im Liegen.

Zweieinhalb Stunden später: 139-84-91. Die gelbe Tüte ist noch halb voll. Gegen 17 Uhr: 144-92-89. Kurz vor 18 Uhr wird doch noch mein Cordon bleu serviert. Es ist nur lauwarm und die Panade ein wenig matschig. Mit dem Kartoffelpüree und dem Tomatensalätchen schmeckt es trotzdem.
19 Uhr: Uff! Bin nun endlich ab- und ausgestöpselt, sieben Stunden später. Bald beginnt das Viertelfinalspiel in der Champions League. Ein wenig Abwechslung. Bin die beiden sterbenumschwirrenden, todumkreisenden Ungarn nun auch schon ein bisschen leid, für heute.

Sonntag, 23. April 2017

Eine Chronik (36)


Zum dritten Mal im Bunker, erneut auf Zimmer 7. Doch diesmal ohne Bettnachbar. Alles andere wie gehabt. Nach Anmeldung im 1. OG, der Unterschrift auf diversen Einverständniserklärungen, dem Aufladen der Telefonkarte und dem Ausfüllen der Essenswunschliste packe ich mein Köfferchen aus, verteile die mitgebrachten Bücher (Novellen, die eigentlich kurze Erzählungen sind, von László Darvasi sowie das „Bauchspeicheldrüsentagebuch“ von Péter Esterházy – zufällig zwei Ungarn? Nein, in der ungarischen Literatur ist oft von Untergang und Tod die Rede …), Zeitungen, Notizhefte auf dem Nacht- und dem Esstisch.

Alles muss ruckzuck gehen. Schon kommt Schwester Gabi mit dem Blutdruckmessapparat – ein praktisches Ding auf Rädern.

143-89-92.

Nächste Patienteninformation durchlesen und unterschreiben, rasch ein paar Handyfotos schießen, weil das Sonnenlicht so froh tänzelnde Schatten auf den grellgrünen PVC-Fußboden zaubert. Auch Frau Dr. K. soll bald kommen, für ein Aufklärungsgespräch und um die üblichen Zugänge zu legen.

Warte lesend, blätternd in alten FAZ-Feuilletons, die der Vater von S. treu und zuverlässig für mich sammelt. Gleich mal auf einen schönen Satz der weitgereisten Schriftstellerin Angelika Overath gestoßen: „Wem der Tod nah ist, der wird leicht lebensmutig.“

10:20 Uhr: Frau Dr. K., Fachärztin für Radiologie, die manchmal etwas ungeduldig erscheint, hat sich Zeit gelassen und die Vene für den Zugang in der rechten Ellbogenbeuge gleich gefunden. Sitze ihr in bequemer Flanellhose und in Hotelschlappen gegenüber, was mir ein bisschen deplatziert vorkommt.

10:50: Dr. H., der leitende Oberarzt, war hier, mit der besten Nachricht seit Monaten. Die Resultate der jüngsten Untersuchungen seien sehr positiv. „Die Bilder zeigen, dass alles sehr stabil ist, keine neuen Metastasen sich gebildet haben, also genau das, was wir uns erhofft hatten.“

Uff, mit einer solchen Neuigkeit lassen sich die kommenden Stunden im Bunker doch schon viel freudiger angehen. Die Radiopeptidtherapie schlägt demnach an und kann bedenkenlos weitergeführt werden.

Daraufhin gönne ich mir eine der mitgebrachten Mandarinen und proste mir mit einem Plastikbecher Mineralwasser selbst zu – nach dem Motto auf dem Etikett: „Zum Essen, zum Wohle, zum Leben“.

Montag, 17. April 2017

Eine Chronik (35)

War in der Oper, las in der Sonne, lag am Strand, habe mich von Kamelen anhauchen lassen, neues Handy bekommen und wieder mit Zeichnen und Malen angefangen, nach langer Unterbrechung. War aber auch wieder einen Tag lang im zweiten Untergeschoss der Klinik, zwecks Kontrolle der Nierenfunktion und erneuter PET-CT-Untersuchung.

Um neun Uhr vormittags sind die Sitzgelegenheiten im Flur 28 der nuklearmedizinischen Abteilung schon gut besetzt. Auffällig viele junge Leute, bei deren Anblick einem das Herz besonders schwer wird, angesichts ihrer blassen, hilfesuchenden Augen, ihrer Ratlosigkeit.

Kurz nach neun werden Zugänge gelegt, rechts und links. Es bedarf, wie so oft, mehrerer Versuche, bevor eine passende Ader gefunden ist und das Blut durch die Nadel in den Behälter rinnt.

Soll viel trinken. Bevor in den nächsten sechs bis sieben Stunden wieder allerlei Szintigrafien und Scans durchgeführt werden. Habe, wie immer, reichlich Lese- und Schreibstoff eingepackt, vor allem das gelbe Heft für die Notizen. Und ein paar Bonbons. Zudem ist der Bart komplett abrasiert, damit es im Gesicht so wenig wie möglich juckt, wenn ich in den diversen Röhren hin und her geschoben werde, mich dabei unter keinen Umständen bewegen und folglich auch nicht mal so nebenbei am Kinn oder hinter den Ohren kratzen darf.

Nächste Blutabnahme in einer Stunde. Übernächste in zwei Stunden. Und so weiter bis zur vierten. Irgendwann wird ein Kontrastmittel gespritzt. Das muss sich im ganzen Körper verteilen.

Zwischen den einzelnen Terminen blättere ich in den alten Notizen im gelben Heft. Dort ist mehrfach von Knochenschmerzen die Rede. Seit Wochen habe ich nichts mehr dergleichen verspürt.

Als auch ich endlich durch bin, sind alle anderen Patienten schon gegangen. Der Flur ist leer. Nur in einzelnen Behandlungszimmern piepsen noch die Geräte. Um 16 Uhr will das Personal Feierabend machen, wie mir heute früh eine Angestellte verriet.

Versuche, S. telefonisch zu erreichen. Sie kann mich jetzt abholen. Doch im Bunker gibt es kein Netz, keinen Empfang. Gehe nach draußen. Auch hier bleibt das – funkelnagelneue – Handy stumm. Das hat gerade noch gefehlt. Kaufe mir beim fahrenden Händler, der sich strategisch klug genau vor den Hauptein- und -ausgang der Klinik platziert hat, ein Eis: Schokolade und Himbeere. Kaum habe ich dreimal daran geleckt, fährt S. vor. Erleichtert, dass es mir offenbar so gut geht und in den letzten Stunden so gut ergangen ist, dass ich Lust auf Süßes verspürt habe. Nur kleckern sollte ich nicht, auf dem Beifahrersitz.