Donnerstag, 16. Juni 2016

Eine Chronik (11)

Neulich abends erstmals Brot gebacken, indisches Paratha in Form von vier schneckenartig eingerollten Fladen, serviert zu Hähnchen Tikka Masala, nach einem Rezept von Jamie O. S. fuhr sich mehrfach genüsslich mit der Zungenspitze über die Lippen. Gleichzeitig behauptete sie, das sei kein Hähnchen-, sondern Putenfleisch. Dazu gab es Basmati-Reis, dem eine Prise Salz fehlte. Als Dessert wurden musikalische Häppchen von David Sylvian aufgetischt, gefolgt von CocoRosie-Delikatessen und der neuesten Kreation von Mogwai. Als Digestif ein gehöriger Schluck Soberano aus einer dieser handlichen, aber nicht sonderlich appetitlichen Plastikflaschen, die es neuerdings auf Flughäfen in den Dutyfree-Shops zu kaufen gibt. Kurz nach Mitternacht donnerte es einmal so kräftig, als würde eine tonnenschwere Mütze Schlaf auf uns niedersinken und auch die muntersten Nachteulen im Nu in einen komaähnlichen, beinahe schon dramatischen Zustand versetzen.
Die Paratha-Fladen waren übrigens nicht dünn genug ausgerollt, so dass der Teig in der Mitte noch ein wenig roh geblieben war. Auch hier fehlte Salz. Demnächst also neuer Versuch. Ende des Kochkurses.
Heute Nachmittag dritte Monatsspritze. Und Blut abzapfen, zur Kontrolle, ob und was sich in den letzten Wochen im Körper eventuell verändert hat. Wie immer: etwas aufgewühlt vor lauter Ungewissheit. Die allgemeine Unbeschwertheit ist wohl dahin, für immer – oder schrieb ich das schon? 

Mittwoch, 8. Juni 2016

Eine Chronik (10)

Das große Wasser, sagt Dr. S., der Hausarzt. Täglich 2,5 Liter, rät die deutsche Gesellschaft für Ernährung. Spült die Nieren, schwemmt den Dreck aus dem Körper. – Und wenn man keinen Durst hat? – Dann muss man sich zum Trinken zwingen. – Und wie geht das? – Indem man sich Rituale zurechtlegt, überall in der Wohnung volle Flaschen verteilt, sich banales Leitungswasser mit einer Zitronenscheibe attraktiver macht. Vor jeder Mahlzeit zwei Gläser, jeweils vor und nach dem Zähneputzen und Händewaschen ein Glas, häufiger Kopfsprünge vom Drei-Meter-Brett.
Gut, ich werde mir Mühe geben, versprochen. Ende der Trinkergeschichte.

Der kleine Notizblock auf dem Nachttisch, daneben der Bleistift. Manche Idee kommt im Schlaf, doch kein Handy kommt ins entsprechende Zimmer. Eher lerne ich die Sätze und dazugehörenden Fetzen im Dämmerzustand auswendig und schreibe sie noch vor dem Frühstück nieder, eher ritze ich sie mir stichwortartig in den Unterarm, eher male ich sie mit S.’ Kajal- oder ihrem Lippenstift auf den Spiegel im Bad.

Kleine Liste der in den letzten Wochen gesammelten Ausdrücke und Redewendungen (Auswahl): Gewitterziegen. Sackgesichter und Sackratten. Holla die Waldfee. Oschi. Mit Menschenhaar kann man Tiere vertreiben, Wildschweine zum Beispiel. Oh leck, ist schon neun Uhr! Das kann ja heiter werden. Wenn man bedenkt, was diese Frau einmal für ein Besen war. Aber Hauptsache, das dicke Arschloch ist weg. Und nun: Geh aufs Klo, Blödmann!
So entwickeln sich einzelne Wörter zu Geschichten, manchmal. Und sobald es Geschichten gibt, behauptet Valeria Luiselli in der Geschichte ihrer Zähne, wird es Leute geben, die sie hören wollen.
Verstanden? – Na, da bin ich mir nicht so sicher.  

Schade, aber sämtliche Reisen, die im Frühjahr geplant waren, mussten aus gesundheitlichen Gründen, also krankheitshalber, annulliert werden: der erneute Sprung nach Georgien und Armenien, die Pressefahrt nach Valencia, die mehrwöchige Tour mit Oybek durch Usbekistan. Hatte mir schon ausgemalt, wie viele Wasserflaschen wir auf der Maulbeer-Route mitschleppen müssten, im Mai oder Juni, wenn in Vorderasien bereits Temperaturen um die 40 Grad Celsius herrschen.
Also, lieber Oybek, nicht verzweifeln, bitte. Eines Tages werde ich die Sache mit dem Wasser in den Griff bekommen. Dann sehen wir uns wieder, versprochen. 

Dienstag, 7. Juni 2016

Eine Chronik (9)

In der Uniklinik: Ausländische Patienten haben vor der DOTATOC-PET-CT eine Vorauszahlung von 2.000 Euro zu leisten, in bar. Kreditkarten werden nicht akzeptiert. Doch wer läuft schon mit einer Plastiktüte voller Geldscheine rum? In einem Krankenhaus? Also. Deswegen empfängt im Eingangsbereich des Klinikums eine Filiale der örtlichen Sparkasse die kranken Kunden. Natürlich steht auch ein Bankautomat zur Verfügung. Und nach erfolgter Einzahlung – mit (vor?)gespielter Lässigkeit habe ich meine Hunderter hingeblättert – erhält man von der Hauskasse eine Empfangsbestätigung, auf Wunsch eine zusätzliche Kopie davon.
Inzwischen ist mein privater Aktenordner mit der Aufschrift MEDICO prächtig gefüllt.
Gestern, wie seit ein paar Wochen wieder regelmäßiger, auf dem Hometrainer. 17 km in 30 Minuten. Manchmal ein paar hundert Meter mehr, manchmal weniger. Der Fitnessquotient schwankt zwischen 1,3 und 3,5. Weshalb? Keine Ahnung. Es gibt solche Tage. Und solche. Manche sind euphorisch und wie gedopt, andere träge und niedergeschlagen.
Vertrage auch wieder Alkohol. Seit der ersten Somatuline-Spritze vor einem guten Monat. Ein Jahr lang abstinent, aber zwischendurch immer mal wieder Versuche mit Rotwein, Weißwein, Bier. Am besten waren noch die scharfen Sachen zu verdauen: Brandy, Obstschnaps, Wodka.  
Dr. K. staunt und kann sich ein herzhaftes Lachen nicht verkneifen. Doch auch jetzt gibt es noch Gelegenheiten, bei denen der Alkohol Mulmigkeit im Magen und Kribbeln im Kopf verursacht. Manchmal wird es nach den ersten Schlucken langsam besser. Also nicht gleich passen, ein bisschen Durchhaltevermögen, bitte!
Im Oman, lese ich, hat jede Familie mindestens eine Ziege, weil Skorpione und Schlangen deren Geruch hassen.

Montag, 6. Juni 2016

Eine Chronik (8)

In der Sonne, zum zweiten. Der Flieder ist bereits verblüht, nein: ersoffen. Dafür bohren sich die Gartenstühle beim Platznehmen vier bis fünf Zentimeter in den Rasen. Der leise Hauch von noch leiseren Schmetterlingsflügeln. Jupp, das Eichhörnchen, hüpft über die Wiese, rüber zum Nussbaum. Schon auf der Suche nach Winterproviant? Und wer flattert da so frech in einen Hohlraum unter dem überstehenden Dach, aus dem es auffällig, wenn auch noch sehr zaghaft zwitschert? Herr Amsel oder Mister Star? Egal, unermüdlich und mit immer neuen Würmern im Schnabel sind die Vögel unterwegs. Zwischendurch entsorgen sie ihr verschmutztes Nistmaterial regelmäßig ins Freie und verursachen dabei Kotschlieren an der Fassade.
Im Schatten des halb kaputten Sonnenschirms. Schaue nur selten von der Lektüre auf. „Cooper“, der neue, offiziell erst Ende Juli erscheinende Roman von Eberhard Rathgeb, ist im ersten Teil äußerst spannend. Atemlos wende ich Seite um Seite. Nach der Hälfte, ab Seite 73, gehen die Blicke immer öfter in Richtung unsichtbares Nest. Gleichzeitig nimmt der Roman, der eigentlich eine Novelle ist, nach und nach an Intensität ab. Es scheint, als hätte eine kompakte, stimmige Erzählung künstlich gestreckt werden müssen. Daher die unmotivierten Einschübe zum Ende hin. Oder wird sich die definitive Version noch von meinem Leseexemplar unterscheiden? Irgendwann, kurz vor Schluss, lege ich das Buch zur Seite und beobachte die Vögel bei der Erfüllung ihrer elterlichen Pflichten.
Gelegentlicher Druck hinter den Rippen, linke Flanke. Ein Gefühl nur oder das Resultat vom langen, bewegungslosen Sitzen? Jedenfalls weckt der Druck Erinnerungen. An damals. Nun auch bereits drei Monate her. Fünf Tage im Krankenhaus, ohne das Gefühl, krank zu sein. Umso aufreibender das ständige Zur-Verfügung-stehen, das stundenlange Warten. Aber es musste sein: erhöhte Entzündungswerte nach FDG-PET-CT festgestellt; DOTATOC-PET-Untersuchung; sonografische Kontrolle.
Ungewissheit, Hoffnung, Angst.
Irgendwann, man weiß nie, wann genau, kommt einer der Ärzte und erläutert den letzten Stand der Dinge. Und dass Geduld erforderlich sei, keine vorläufige Diagnose gewagt werden dürfe, am nächsten Tag vermutlich, eventuell, möglicherweise noch einmal Flüssigkeit aus dem Rippenfell gezapft werden müsse.
Kurzer Händedruck. Bis morgen. Gute Nacht.
Gleich darauf klopft das Abendessen an die Tür: 3x Oberländer (hell), 1x GewGurke, 3x Butter, 1x Marmelade, 2x Schnittkä, 2x Weichkä.