Donnerstag, 28. April 2016

Eine Chronik (4)

Zeit, all die leeren Medikamentenschachteln der letzten Monate zu entsorgen: Eubiol, Augmentin, Unacid, Gelomyrtol ... Jetzt, wo endlich die Sonne über den Schnee der letzten Tage blinzelt, Besserung in Sicht ist. Weiß gar nicht mehr, wozu das ganze Zeug gut war. Ob es überhaupt gut war. Egal, seit ein paar Tagen wird anderes geschluckt. Was vorher war, fliegt in den Müll.
Obwohl, so leicht lässt sich das Vergangene trotzdem nicht abschütteln. Die Müdigkeit um Weihnachten, der Husten nach Neujahr, die Blutanalysen auf der Suche nach den Entzündungsherden, die sich offenbar bestens im Leib versteckt haben. Also wird die große Suchaktion gestartet, mit Ultraschall, Elektrokardiogramm, PET-Scan, Lungenspiegelung, Rippenfellpunktion ...
Dazu erforderlich: ein mehrtägiger Krankenhausaufenthalt. Über den ich so präzise wie möglich Buch führe: Aufnahme an einem sonnigen, aber bitterkalten Montagmorgen im März. Sofort setzt sich die Maschinerie in Bewegung: Blutabnahme, Katheter, Lungentest, klopfen, abhorchen, drücken ... Kaum ist das Zimmer 328 auf Station 303 bezogen, wird das Mittagessen serviert, kurz nach zwölf: Geschnetzeltes mit Spätzle und Salat mit Dressing, als Dessert eine Plastikschale Erdbeerquark.
Gegen fünfzehn Uhr fährt S. heim, nein, ich schicke sie weg. Sie braucht ihre Zeit nicht unnütz zu vergeuden, hat Besseres zu tun, als neben meinem Bett zu hocken.
Versuche, mich mit meinem Zimmer anzufreunden. Es gibt einen Fernseher, eine Steckdose, um das Handy aufzuladen, einen Heizkörper, der hohl, aber ausdauernd röhrt.
Irgendwann kommt die Stationsärztin mit dem Fragebogen, der unterschrieben werden muss. Kurz darauf schaut der Oberarzt vorbei, für fünf Minuten. Warmer Händedruck. Alles weitere wird der Patient im Lauf der nächsten Stunden erfahren. Einstweilen darf er sich auf siebzehn Uhr freuen, dann wird das Abendmahl serviert: vier Scheiben Brot, vier Portionen Butter, eine kleine westfälische Leberwurst, eine Scheibe Käse, eine Scheibe Wurst, je ein Töpfchen Marmelade und Honig, eine kleine Portion Quark.
Die Bronchoskopie soll am nächsten Vormittag stattfinden, irgendwann zwischen acht und elf Uhr dreißig. Ab dem Vorabend, nach zweiundzwanzig Uhr, darf nichts mehr gegessen und nichts mehr getrunken werden. Nur den Mund soll man sich noch ein paar Mal mit Wasser ausspülen und es anschließend ausspucken.

Samstag, 23. April 2016

Eine Chronik (3)

Der Winter ist zurück, mit Kälte, Schneegestöber, mausgrauem Himmel. Egal, so sitzt es sich unbeschwerter an der Maschine. Bin eh seit ein paar Wochen im Schreibfieber, wie seit Monaten, nein, eigentlich seit Jahren nicht mehr. Erste Fassungen etlicher neuer Texte liegen bereit; als nächstes ist S. dran. Das muss so sein: verbessern, streichen, kürzen vor allem, reduzieren.
Gemeinsam überlegen wir, wie man sie irgendwann nennen soll: Kurzgeschichten, Erzählungen, Stories?
Auch Lesestoff kann ich mir fast nicht schnell genug herbeischaffen. Gieriges Entdecken und Verschlingen.
Ob das eine mit dem anderen zu tun hat, zusammenhängt?
Nebenbei, ohne mir etwas davon zu sagen, hat S. gegoogelt: Nicht nett, mein neuroendokriner Tumor, den die Euphemisten auch noch NET nennen. Er tritt etwa ein- bis zweimal pro 100.000 Personen und Jahr auf. Na toll! Aber kein Grund, stolz zu sein.
Auch der Winter, allez hëpp!, kann sofort wieder verschwinden. Möchte ins Sonnenlicht, ins Himmelblau schauen, während ich schreibe – und lese, lebe. Kapiert?

Freitag, 22. April 2016

Eine Chronik (2)

Rückblick
März 2010: Lobektomie im Universitätskrankenhaus von S. Oben links schneidet Dr. M. mir einen gehörigen Lappen von der Lunge weg.
Den Everest werden Sie nun nicht mehr erklimmen! – Oh, schade! Und in den Marianengraben abtauchen?
Normaler Verlauf der OP, ebenso die Zeit danach. Da wird nichts wiederkommen, meint der Pneumologe.
Etwas mehr als fünf Jahre lang geht es gut. Bin zwar kurzatmiger geworden, aber ansonsten ordentlich in Form.
Bis im Frühjahr 2015: Seltsames Unwohlsein. Virus, angeblich. Aber hält auf Trab. Dr. C., der Lungendoktor, vermutet Rippenfellentzündung und schickt mich in den Scan. Mitte Mai: Start zu der schon länger geplanten Reise nach Usbekistan und Kirgistan. Die frühsommerliche Wärme an der Seidenstraße tut gut. Aber sowieso: Auf Reisen fühle ich mich (fast) immer bestens in Form: entdeckungslustig, klar im Kopf, neugierig, fit. So auch diesmal. Und nach der Rückkehr wird die Reise gleich noch einmal absolviert, Tag für Tag, Station für Station: Taschkent, Schiwa, Buchara, Samarkand, Bischkek, Karakol – und die Geschichten, Begegnungen und Beobachtungen von dort. Das Schreiben über die Reise dauert meist länger als die Reise selbst, oft Wochen, wenn nicht Monate. In denen die gesundheitlichen Probleme aus dem Frühjahr einfach vergessen werden, beim Sitzen am Rechner, beim Spazieren über Wiesen und Felder, bei den Erinnerungen an Oybek, der mir im kleinen Park der Papiermanufaktur in Samarkand sein usbekisches Leben erzählt, an die einjährige Alpim, die sich in ihrem Laufställchen hoch über dem Issyk Kul-See höchst ungern fotografieren lässt.   

Mittwoch, 20. April 2016

Eine Chronik (1)

20.4.2016
Später Vormittag, bekomme die erste Spritze: Somatuline Autogel. Autogel? Seltsame Bezeichnung. Vorher kurzes Gespräch mit der Onkologin, Dr. K. Eine zusätzliche Analyse des Rippenfells sei im Moment nicht erforderlich. Gut zu hören, wenigstens das.
Und endlich geschieht etwas, nach vier Monaten Analysen, ersten, vorläufigen, fast definitiven Diagnosen und vielen Ungewissheiten, noch mehr Ängsten.
Ein Raum, aquariumähnlich, mit verstellbaren Ledersesseln. Eine kleine Sitzecke mit Kaffeemaschine und Trinkwasserspender. Die übliche Wartezimmerlektüre, regenbogenfarben, ein Stapel Werbebroschüren von Friseuren und Unternehmen, die „Zweithaar“ anpreisen. Viel Betrieb. Bin seit langem einmal wieder einer der Jüngsten. Die Arzthelferin drückt mir eine Spritze in die Hand. 60 g Lanreotid. Kommt aus dem Kühlschrank, ist eiskalt, soll ich 15 Minuten lang mit den Fingern fest umschließen und gut aufwärmen. Wie das krampfhafte Festhalten an einem Rettungsring.
Danach die Aufforderung, in einem Nebenzimmer zu warten. Alles geht zügig voran. Die blau geschürzte Dame kommt und schließt die Tür hinter sich. Die Nadel sei ziemlich dick, sagt sie. Oberschenkel oder Hüftspeck? – Keine Ahnung! Bin zum ersten Mal hier. – Nun, die meisten Patienten finden, in der Hüfte schmerze es weniger. – Es wird also wehtun? – Ich würde lügen, wenn ich das Gegenteil behauptete. – Also Hüfte.
Ziehe Hemd und Unterhemd aus der Hose, stütze mich auf einem niedrigen Schrank ab.
Und nun tief Luft holen!
Gehorche, atme tief ein, bin auf alles gefasst, schließe die Augen. Kühlendes Spray, Desinfektionsmittel, dann ein Pikser.
Und nun bitte normal weiteratmen.
War’s das schon? Also, mein Zahnarzt verursacht mir schlimmere Schmerzen, wenn er mich bloß anschaut.
Das dauert nun ein paar Minuten. Die Lösung wird langsam unter die Haut gespritzt. Wenn Sie’s nicht mehr aushalten, können wir eine Pause einlegen, sagt die Arzthelferin.
Geht schon. Merke nicht einmal, wie der Wirkstoff sich langsam auszudehnen beginnt. Schließlich ein Pflaster, danke und tschüss. Bis zum nächsten Mal, in vier Wochen.
S. wartet im Flur. Und? – Alles okay!
Wir fahren in die Stadt, in ein zentral gelegenes Parkhaus, mit Oberdeck und freien Plätzen an der frischen Luft. Ein herrlich sonniger Tag, komplett wolkenlos, die erste richtige Frühlingsatmosphäre in diesem Jahr. Licht, Leichtheit, Heiterkeit fast. Endlich. 22 Grad. Wollmütze, Schal und Regenschirm können im Kofferraum bleiben.
Warte ungeduldig, während wir herumspazieren, dass sich etwas regt, die Spritze irgendwelche Wirkungen zeigt. Horche in den Körper hinein, wie seit Wochen. Aber nein. Alles wie immer.
Wir entscheiden uns für ein kleines Mittagsmenü. Anschließend einige Besorgungen, ein Stündchen draußen auf einer Caféterrasse sitzen, in der prallen Sonne, richtige Zeitung lesen. Danach Kino, ein neuer schwedischer Film: „Ein Mann namens Ove“. Eine Geschichte über Krebs, Trauer, Sterben und Tod, aber auch Mut, Zuneigung, Liebe. Viel geweint. Kräftig geschluckt. Etwa bei Sonjas Satz: „Denken wir an den Tod oder wollen wir leben?“
Heute morgen nach Sonja, Oves Frau, gegoogelt, dargestellt von einer schwedischen Schauspielerin namens Ida Engvoll. Wirkt auf ihren offiziellen Fotos nicht halb so charmant, energisch und lebensfroh wie im Film, selbst wenn sie dort gelähmt im Rollstuhl sitzt.