Freitag, 12. August 2016

Eine Chronik (14)

Es schüttet. Kühler Wind. Vierte und höhere Stockwerke in einem undurchdringlichen Gemisch aus Nebel und Wolken. Ein verregneter Spätnachmittag im August ist demnach der ideale Zeitpunkt für einen Besuch in der onkologischen Praxis. Kaum Betrieb. Leeres Wartezimmer. Weder Kuchen noch Kekse auf dem Empfangstresen. Alle Anwesenden haben gute Laune, trotz Sommerflaute. Oder gerade deswegen.
Fünfte Injektion und übliche Prozedur: Ein gutes Viertelstündchen lang muss ich, in der Küchenecke des Behandlungsraumes hockend, die kühlschrankkalte Spritze mit der milchig trüben Flüssigkeit in der eigenen Hand aufwärmen. Auf den Knien ein Nachrichtenmagazin aus Hamburg, das ich linkshändig durchblättere. Hinter einem Vorhang erzählt eine ältere Frau der medizinischen Assistentin, dass sie seit Tagen mit Reflux, Sodbrennen und Schluckauf zu kämpfen hat, und das vor allem nachts, weshalb sie in letzter Zeit stets müde sei und schlecht gelaunt und ...
Schon ist die Reihe an mir! In dem Nebenzimmerchen darf ich das Hemd aus der Hose ziehen, den Speckreifen freilegen, mich auf dem Schrank abstützen. Einmal tief Luft holen, bitte!, fordert die Dame im dunkelblauen Kittel, neuerdings statt Krankenschwester gerne auch Gesundheitspflegerin genannt, mich auf. Diesen kurzen Moment meiner Konzentration auf das Einatmen nutzt sie, um mir – Achtung! Jetzt tut’s kurz weh! – die Nadel ins Fleisch zu stechen. Das war’s schon? – Ja. – Halb so wild, behaupte ich, einen auf harten Kerl machend.
Aber wieso funktioniert das eigentlich mit dem Luftholen?
Das sei mit dem Pusten auf Wunden bei kleinen Kindern oder dem instinktiven Reiben über verletzte Stellen zwecks Ausschaltung der Schmerzrezeptoren zu vergleichen, erklärt die Dame, während sie mir ganz gemächlich die neue Hormonladung unter die Haut befördert. Funktioniere auch bei Erwachsenen. Habe mit Nervenzellen zu tun, die positive Gefühle auslösen, die schneller seien als das Schmerzgefühl und dieses für Sekundenbruchteile überlagern, also Linderung verschaffen. Oder so ähnlich.
Genau kapiere ich die Erläuterungen nicht. Egal. Hauptsache, der Trick hilft. Und das tut er, verlässlich.
Nach einer halben Stunde: Ende der Sitzung. Nächster Termin in vier Wochen, vormittags um zehn. Tschau, und genießen Sie den Restsommer, empfehle ich den Damen am Empfang. Gequält lächeln sie zurück.
Draußen, auf dem Parkplatz, gießt es nun Kies. Heftige Böen. Egal. Muss noch zum – wie er sich nennt – „Fachhändler für Büro, Schule und Kreatives“. Brauche neue Stifte. Muss weiterschreiben. Weitermachen.  

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