Mittwoch, 26. April 2017

Eine Chronik (38)

Wo sind eigentlich die typischen Krankenhausgerüche von früher hin? War das Chlor? Irgendein Reinigungs-, ein Narkosemittel?

Erste Zahlen am Morgen kurz nach sieben: 142-85-95.

Noch während ich frühstücke, tritt unerwartet der Klinikdirektor, Dr. M., ins Zimmer. Es ist hier nicht üblich, einander mit Handschlag zu begrüßen, wegen, nehme ich mal an, Ansteckungsgefahr oder so. Er wiederholt, was gestern Dr. H. bereits berichtete: Es gibt keine neuen Infektionsherde, das Wachstum der kranken Zellen ist einstweilen gebremst, der englische Fachbegriff für die derzeitige Situation lautet: „stable disease“.

Kaum ist der Doktor wieder gegangen, werde ich zur nächsten Szintigrafie gerufen. Aber ich muss doch noch Zähne putzen, Hose, Hemd und Schuhe anziehen! Ich laufe doch nicht ungewaschen im Pyjama auf den Klinikfluren herum … Gut, sagt Schwester Rita, dann hole ich Sie erst in einer Viertelstunde ab.  

Leider hat die hübsche Blonde mit dem orangenen T-Shirt und dem kecken Dekolletee, die mir beim letzten Mal so zärtlich die Hemdsärmel hochkrempelte, als ich vor ihr auf dem Schiebetisch der E.Camera lag, heute keinen Dienst. Osterferien? Nun, ihre dunkelhaarige Kollegin ist auch sehr nett und holt mich nach 15 Minuten bereits wieder aus der Röhre.

Zurück aufs Zimmer. Ob ich noch einen frischen Kaffee möchte, fragt Schwester Rita. Warum nicht, der Tag ist noch lang und momentan sind für heute keine weiteren Untersuchungen vorgesehen. Zeit zum Lesen, Schreiben, Ausruhen, was leicht fällt mit der aktuellen Diagnose. „Stable disease“ klingt gar nicht so erschreckend, ja, geradezu ermutigend unter den gegebenen Umständen.

Bedauerlicherweise musste ich die für heute geplante Lesung in B. kurzfristig absagen. Hatte schon so etwas geahnt, obwohl die Therapietermine stets ein paar Wochen im Voraus festgelegt werden. Aber ein verändertes Blutbild, schwächelnde Nieren können jederzeit dafür sorgen, dass das ursprüngliche Programm über den Haufen geworfen werden muss. Statt am Abend vor Publikum zu sitzen und, wie angedacht, die tierische Titelgeschichte aus dem neuen Buch vorzulesen, werde ich um diese Zeit auf einem unbequemen Stuhl hocken, Nachrichten und anschließend ein Europa League-Spiel anschauen. Gelesen und geschrieben habe ich bereits den ganzen langen Tag über, hinter geschlossenem Fenster, ohne frischen Sauerstoff, so dass mir der Kopf nun leer und dumpf vorkommt.

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