Dienstag, 22. August 2017

Eine Chronik (51)


Es war eine der Begegnungen, die mich als Kind am meisten verfolgten. Wir, die Eltern und ich, hatten, gar nicht so weit von unserem Wohnort entfernt, ein Benediktinerinnenkloster besucht, in dem eine Tante – oder war es eine Cousine – meines Vaters als Nonne lebte. In einer Abtei der ewigen Anbetung.
Wir meldeten uns am Eingang an und wurden in ein Zimmer mit vier weißen Wänden, einem kleinen Tisch und einer einfachen Holzbank geführt, in dem es eiskalt war und wo wir eine Weile warten mussten. Erst während des Wartens fiel mir auf, dass man in eine der blanken Wände eine Art Fenster eingelassen hatte, das mit zwei Klappläden, ebenfalls aus Holz, verschlossen war.
Nach einiger Zeit ging die Klappe auf, wie ferngesteuert, und dahinter kam ein engmaschiges Gitter zum Vorschein. Zögernd näherten wir uns der dunklen Öffnung, hinter der eine leise Stimme uns begrüßte. Ich war vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Mein Vater stellte mich dem Schatten hinter dem Gitter als seinen Erstgeborenen vor. Ob sie, die Tante oder die Cousine, nun, da sie mich kennen würde, nicht ab und zu für mich und mein Wohlergehen beten könne?
Nun, mehr als ein halbes Jahrhundert später, halte ich ein Schwarzweiß-Foto der mit der Zeit namenlos gewordenen Benediktinerin in den Händen. Darauf zu sehen ist eine junge Frau mit einem runden Gesicht, einer Brille mit rundem Metallgestell und einem dunkel schimmernden Bartflaum an beiden Seiten der Oberlippe. Sie trägt einen weißen Schleier, der ihren runden Kopf einfasst wie ein zu eng geknüpfter Kragen und darüber ein Habit, der ihr über beide Schultern fällt. Sie hält den Kopf leicht schief. Als Schmuck baumelt eine miniaturisierte Monstranz vor ihrer Brust und noch weiter unten, auf dem Bauch, ein gekreuzigter Christus.
Von meiner Mutter habe ich unlängst erfahren, dass unsere Verwandte irgendwann Priorin ihres Klosters wurde. Damals, so sagte meine Mutter, habe die schweigsame und vor allem unsichtbare Nonne versprochen, fortan täglich nicht nur für mich, sondern für uns alle zu beten und für uns da zu sein, wann immer wir ihre Unterstützung benötigen würden.
Inzwischen, so musste ich erfahren, ist die Cousine – oder war es doch die Tante – meines Vaters verstorben. Es ist, soweit ich weiß, nun niemand mehr da, der, mit unmittelbarem Draht zum Himmel, für uns beten kann.

Wo Muskeln sind und Widerstand, ist kein Platz für den Krebs. Darum gehen wir immer noch schön regelmäßig ins Fitnessstudio, mein Tumor und ich. Er sträubt sich, natürlich, er will nicht bekämpft werden, nicht verdrängt, an der Gurgel gepackt und kräftig durcheinandergewirbelt werden, der alte Schlappschwanz. Aber ich kann, beim besten Willen, keine Rücksicht darauf nehmen, was mein Tumor so für Vorstellungen hat. Ja, ich wäre froh, wenn ich mal ohne seine ständige Begleitung unterwegs sein könnte. Darauf arbeite ich hin. Auch wenn niemand mehr für mich betet.

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