Freitag, 6. Januar 2017

Eine Chronik (25)

Donnerstag, 7:30. Herr K. und sein Messgerät, mit Manschette und Klettverschluss. Er misst Temperatur, Blutdruck und Puls. Die gestrigen Infusionen zeigen keinerlei Nebenwirkungen. Seien Sie doch froh, sagt Herr K. Wir reden über Fußball. Herr K. ist seit seiner Kindheit Anhänger von Borussia Mönchengladbach. Vor zwei Tagen war er noch im Stadion. Wie damals, 1971, als Roberto Boninsegna, ein Spieler von Inter Mailand, auf dem Bökelberg nach einem Büchsenwurf zu Boden ging.
Mir schwillt heute noch so der Kragen, wenn ich nur diesen Namen höre! Bo-nin-segna!, sagt Herr K., hält die Hand vor seinen Hals und macht eine Geste, als wuchere ihm dort eine riesige Geschwulst.
Kurz nach acht, noch während ich beim Frühstück sitze, werde ich zur Messung der Strahlendosis in den Dosimeter bestellt. Herr K. geht voran, durch die hell erleuchteten Flure des Labyrinths. Ich frage ihn, ob er mir am Kiosk im Eingangsbereich der Klinik eine Tageszeitung besorgen kann. Ich darf ja nicht raus aus dem Bunker, wegen der Radioaktivität in meinem Körper, die hier von allen und immer nur „Aktivität“ genannt wird, vermutlich, weil das neutraler klingt, vielleicht auch positiver. So wie niemand hier auf der Station, zumindest nicht in Präsenz des Patienten, Wörter wie Tumor, Krebs, Krankheit, Tod in den Mund nimmt.
Nach der Dosimetrie gibt es einstweilen nichts mehr zu tun. Ich kann lesen, notieren, überlegen, so lange ich will. Genauer: Bis das Mittagessen serviert wird, lange bevor es Mittag ist. Leichte Vollkost: in Stückchen geschnittenes Hähnchenbrustfilet, dazu Basmati- und Wildreis sowie Erbsen. Als Dessert Sommerfrüchtejoghurt und zwei Kekse.
Nach der Mittagspause steht ein SPECT auf dem Programm. Ich lasse mir den Begriff erklären (Einzelphotonen-Emissionscomputertomografie: SPECT von englisch single photon emission computed tomography) und verstehen trotzdem nicht wirklich, was diesmal passieren wird.
Schwester G. schiebt mich, obwohl ich natürlich genauso gut laufen könnte, im Rollstühlchen durch lange Korridore, um viele Ecken, durch gläserne Türen, auf denen geschrieben steht: „Durchgang verboten“, an Wartenden vorbei, die mich nur aus den Augenwinkeln anzuschauen wagen – wie ich auch sie.
Bis auf die Unterhose ausziehen, hinlegen, Arme fest an den Oberkörper pressen, nicht bewegen, auch nicht die Zehen. Zum Glück kreist die Gammakamera – so heißt sie, das weiß ich inzwischen – um mich und ich nicht um sie. Die Klimaanlage verströmt kühle Luft. Wenigstens hat man mir eine dünne Wolldecke auf die nackten Beine gelegt. Zunächst juckt es an der Nase, später auch noch auf der Stirn. Ich kann mich nicht wehren, nur versuchen, das Jucken durch Konzentration und Willen zu bekämpfen. Oder an Schwester G. zu denken, die versprochen hat, mir nach dem SPECT etwas Süßes aufs Zimmer zu bringen.
Eine Stunde später sitze ich vor einer Tasse Kakao und zwei Scheiben Zwieback mit Aprikosenkonfitüre. Vor wie vielen Jahrzehnten habe ich zuletzt heiße Schokolade getrunken, Zwiebackkrümel an den Lippen kleben gehabt?
Gleichzeitig lese ich bei Falkner von dem Mann, „dessen Finger nach Vivians Möse dufteten“. Ein hübscher Kontrast. Aber habe ich den Namen Vivian nachträglich nicht selbst eingesetzt, persönlichen Erinnerungen folgend?
Abendessen kommt um halb sieben: das Gleiche wie gestern. Meine Schuld! Hätte ja auch etwas anderes auf dem Bestellformular ankreuzen können.

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